Woche Zwölf
Tharkad City, Tharkad
Mark Donegal, Vereinigtes Commonwealth
11.2.3055
Ellen stand vor der Tür des McMurphys und atmete die Luft ein.
Sie hatte sich geweigert, zu der offiziellen Semesterabschlussparty vor einigen Tagen zu gehen. Ganz abgesehen davon, dass sie keinen Grund zu feiern hatte, hasste sie Feiern, auf denen mehrere tausend Studenten betrunken herumtorkelten. So was machte nur Spaß, wenn man selbst nicht mehr nüchtern war.
Aber gegen ein Treffen mit den Personen, die sie so kannte, sprach nichts.
Und jetzt war es ganz angenehm im McMurphys, da die meisten Studenten in den letzten Tagen abgereist waren und man wieder Platz in den Bars von Tharkad City fand. Das Ganze hatte Ellen an eine Art Massenflucht erinnert, als die Horden der Studenten zu den Raum- und Flughäfen der Stadt gepilgert waren, um hier wegzukommen.
Sie war geblieben. Sie blieb immer. Als sie in sich hinein lächelte. Sie wollte ja auch nicht weg.
"Huhu?"
Ellen drehte sich um, blickte in die Augen von July, die im Türrahmen stand.
"Ja?"
"Kommst du wieder rein?"
"Ja klar. Ich will nur noch etwas Frischluft tanken."
July sah sie skeptisch an: "Frischluft hin oder her. Es ist scheißkalt hier draußen."
"Hm. Ich komme dann jedenfalls demnächst."
"Tu das." Murmelt July und verschwand wieder in der Bar.
Ellen sah ihr einen Moment nach. Die Nacht war für tharkanische Verhältnisse ganz angenehm und war mit etwa fünfzehn Grad Minus vergleichsweise mild.
"Ah hallo! Die anderen noch nicht da?"
Ellen drehte ihren Kopf, sah Carmen und meinte nur: "Die sind schon drin. Ich wollte nur einen Moment an die kühle Luft."
Carmen nickte ernst: "Ja. Das sind die Auswirkungen des saisonalen Corcaigh-Tiefs."
Die andere Frau sah sie zustimmend an und tat so, als würde sie die Planetologin verstehen. Dann fragte Ellen mit einem süffisanten Grinsen: "Und wie läuft´s mit John? "
Carmen lief kurz rot an und ging wortlos in die Bar.
Ellen sah ihr kurz hinterher. Anscheinend lag sie nicht ganz so falsch, wenn sie Carmens Reaktion richtig interpretierte. Auch wenn die Planetologin das nicht wirklich zugeben wollte. Jedenfalls schwärmte John gerade wie ein verliebter Schmetterling von ihr. Andererseits schwärmte John von jeder Frau, die ihn näher als zwei Meter heranließ.
Ellen sog noch einmal die kalte Luft ein. Sie verstand sich seit dieser Woche wieder ganz gut mit ihren Freunden. Nachdem sie sich mit John ausgesprochen hatte, war der Rest vergleichsweise unkompliziert gewesen. Die vier anderen, July, Ni, Sam und Pedro hatten sie ebenfalls noch lieb – was Ellen ziemlich wunderte. Sie war ja wirklich nicht allzu freundlich mit ihnen herumgesprungen. Eigentlich hatte sie angenommen, dass man sie eine Weile zappeln ließ. Verdient hätte sie es.
Die Tür ging wieder auf und Sergej blickte sie an: "Komm´ endlich mal rein. Du fängst dir da draußen sonst noch ´ne fette Erkältung ein."
Sie lächelte, nickte. Sergej war süß, wenn er sich Sorgen machte. Dann folgte sie ihm.
"Schön, dass bei dir alles geklappt hat."
"Na ja, die Tests waren nicht allzu schwer." Erklärte Sergej July, die Interesse vortäuschte und fragte: "Welche Tests hattest du eigentlich?"
"Ach, zwei über Sensorik, einer über Waffentechnik und drei über Gefechtstaktiken."
"Hm."
Ellens Freund lachte: "Ist in Ordnung, July. Es reicht, wenn ich mich dafür interessiere."
July grinste, wandte sich dann plötzlich an Ellen: "Und nächstes Semester holst du dann deine Prüfung nach, oder?"
"Hatte ich vor."
John sah sie mit gespieltem Entsetzen an: "Dann fängt der gleiche Mist wieder an?"
Sie grinste breit: "Scheint fast so. Aber diesmal solltest du es eher verkraften. Zumindest weißt du dann schon, was dich erwartet."
Kapitel Fünfzehn
Lovely Home, Liezen
Tamarpakt, Vereinigtes Commonwealth
30.2.3032
Sarah hatte das Gefühl, dass es ihr wieder besser ging.
Die Leere tief in ihr würde zwar noch bleiben, vielleicht noch lange, aber sie konnte wieder ganz normal unter Menschen, ohne sich – oder die anderen – zu hassen.
Als die Raketen den Stützpunkt der Rebellen getroffen hatten, war etwas in ihr gestorben. Ihre Naivität, ihr Idealismus, ihr Glauben an das Gute im Menschen. Irgendetwas davon. Vielleicht auch alle diese drei Dinge.
In den letzten Tagen hatte sie sich gefragt, ob mit Ellick dasselbe auf Al Hillah geschehen war. Hatte er dort genauso die Grenzen der Menschlichkeit überschreiten müssen, um eine Schlacht zu gewinnen und seine Kameraden zu retten?
Vermutlich.
Die Helikopterpilotin verstand die Bestie inzwischen ein wenig besser, auch wenn sie das nicht wollte. Genauso wenig, wie sie die Finsternis verstehen wollte, aus der diese Bestie kam.
Plötzlich schossen ihr wieder die Erinnerungen durch den Kopf, was geschehen war, nachdem die Schlacht durch die Brandraketen entschieden worden war. Der Widerstand war augenblicklich zusammengebrochen und die Lyraner hatten ziemlich einfaches Spiel gehabt. Es hatte nur wenige Überlebende gegeben, die allesamt tief in den Höhlen gewesen waren, als die Hölle hereingebrochen war. Manche hatten sich ergeben, einige wenige hatten sich gewehrt.
Aber so oder so war diese Rebellion nach dieser Schlacht beendet gewesen.
DEST hatten sie keine mehr gefunden. Weder lebendig noch tot. Vermutlich waren die DEST, sofern überhaupt noch welche auf Liezen gewesen waren, in der Flammenhölle gestorben. Wenn noch welche da waren, würden sie das früher oder später schon noch erfahren.
Die meisten draconischen Rebellen, die sie lebend erwischt hatten, befanden sich im Moment in Gewahrsam und warteten auf ihren Prozess. Katek hatte die Order erhalten, sie wohlwollend zu behandeln, ein Befehl, der ihm nicht ganz passte, denn Kateks Meinung nach würde es nicht lange dauern, bis dieselben Personen, die er jetzt nachsichtig behandeln würde, wieder für Ärger sorgen würden. Andererseits hatten Wellerbein und Ellick darauf aufmerksam gemacht, dass es sicher der falsche Weg war, die Bevölkerung durch übertrieben harte Urteile gegen sich aufzubringen.
Es würde wohl alles in allem noch zwei oder drei Generationen dauern, bis die Lyraner auch in den Köpfen der Einheimischen die neuen Machthaber sein würden. Der Gedanke, dass dieser Krieg mit der entscheidenden Schlacht noch nicht entschieden war, sondern auf subtilere Weise weiterging, schoss ihr plötzlich durch den Kopf.
Aber es war nicht zu ändern. Das Ziel des Vierten Nachfolgekrieges war gewesen, möglichst viele Planeten einzunehmen, nicht, die planetaren Bevölkerungen von den, möglicherweise, hehreren Absichten des Commonwealth zu überzeugen.
All das deprimierte sie. Hatte sie also nicht gegen Rebellen, sondern in gewisser Weise gegen das Volk von Liezen gekämpft? Sie hatte sich früher immer eingeredet, die Zivilbevölkerung zu beschützen, nicht ihr Feind zu sein.
Zumindest war es ein Anfang, dass lyranische Soldaten in der Lage waren, ein draconisches Waisenkind wie Erin aufzunehmen. So begann es. Erin würde vielleicht eine der ersten sein, die die Lyraner als Beschützer sahen. Andere würden ihrer Einstellung folgen, wenn klar wurde, dass die Lyraner die Bevölkerung nicht gegen sich aufbringen wollten.
"Sarah?"
Sie blickte hoch, sah Ellick. Sie lächelte schwach. Sie hätte ihn wohl hassen sollen, aber irgend etwas machte ihn gerade nach der Erfahrung des letzten Gefechts angenehmer. Er schien ihr vertrauter geworden zu sein.
"Ja?"
"Ihr Essen wird kalt." Er sah sie ernst an. Es waren keine vier Tage seit diesem Schlussgefecht vergangen und er dachte ans Essen. Sie wusste im ersten Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Dann lächelte sie: "Ich komme gleich. Was gibt´s denn heute?"
Er sah sie entgeistert an, als könne er nicht glauben, dass sie den Speiseplan nicht kannte. Sie unterbrach die Szene, als sie meinte: "Egal. Ich find´s gleich raus."
Wortlos drehte sie sich, ging in Richtung Eingang. Ellick folgte ihr.
"Sarah?"
Sie drehte sich wieder zu ihm um, sah ihn fragend an. Plötzlich wirkte er verschüchtert, fast kindlich. "Wieso bleiben Sie?"
"Wie meinen Sie das?"
"Ich meine, ich bleibe, weil ich Sinn in diesem Wahnsinn sehe. Das ist wohl moralisch verwerflich, aber ich bin so. Aber Sie hassen, was wir hier tun. Wieso bleiben Sie?"
Sie überlegte einen Moment, flüsterte dann: "Ich weiß es nicht, Barny."
"So eine Antwort befriedigt mich nicht."
Sie sah ihn an, starrte in seine Augen. Sie konnte es nicht erklären, wollte es, aber ihr fehlten die Worte. Dann meinte sie: "Ich hasse es, wenn ich hier bin, aber ich würde den Dienst hier vermissen, wenn ich woanders wäre."
Sie setzte ab, musterte ihn, meinte leise: "Verstehen Sie das?"
"Ja, ich glaube schon."
Sarah nickte, betrat den Eingang und verschwand in dem Stützpunkt.
Kapitel Fünfzehn Ende
Sie klappte das Buch zu, seufzte tief durch.
Musste sie verstehen, was Sarah Anderson getrieben hatte? Und was Ellick getrieben hatte? Nein. Sie wollte es außerdem gar nicht. Vermutlich war es am Schluss eine jener kaputten Kriegsgeschichten gewesen, von denen es da draußen zu viele gab.
Sie lehnte sich zurück. Es war angenehm heute Abend in der Bibliothek.
Nachdem sie sich mit ihrer Clique getroffen hatte, hatte sie einen letzten Abstecher hierher gemacht, um diese Sache zuende zu bringen.
Schritte.
Ellen drehte sich um, sah plötzlich Wellerbein um die Ecke biegen, der sie anlächelte, als er das Buch sah. Er zögerte für den Bruchteil eines Moments und kam dann auf sie zu, blieb neben ihr stehen. "Und? Haben Sie´s durch?"
Ellen nickte, schwieg... Und fragte plötzlich: "Wieso haben Sie erlaubt, dass er so kämpfte wie er es tat?"
Der Privatdozent sah sie erst verwirrt an, dann wurde sein Blick ernst: "Was soll ich sagen? Er war erfolgreich damit. Wenn man im Krieg kämpft tut man immer Dinge, die man eigentlich verabscheut. Ich kenne keinen Soldaten, dem es anders ging. Mich eingeschlossen."
"Aber es war ein Kriegsverbrechen, Brandwaffen einzusetzen."
"Glauben Sie ja nicht, dass die andere Seite das nicht auch getan hätte."
"Trotzdem..."
Er lächelte, unterbrach ihren Einwand: "Wenn Sie eine Rechtfertigung für die Hölle von mir wollen, muss ich Ihnen sagen, dass ich keine haben. Ich bin nicht stolz darauf, aber es ist nun einmal geschehen. Hassen Sie mich dafür, wenn Sie wollen. Es wird nichts ändern."
Sie schwieg, flüsterte plötzlich: "Was ist aus Sarah Anderson geworden?"
"Sie war noch einige Jahre bei den Streitkräften, dann ist sie zurück ins zivile Leben und leitet jetzt einen Hubschrauber-Rettungsdienst, soweit ich weiß."
"Und aus Ellick?"
Wellerbein zögerte, lachte amüsiert: "Ellick lebt glücklich an irgendeinem Meer und liest weiter sein bescheuertes Buch."
"Das glaube ich Ihnen nicht."
Seine Augen blitzten auf: "Aber es war, was Sie hören wollten, oder?"
Er blickte sich um, warf ihr ein kurzes "Schöne vorlesungsfreie Zeit!" zu und verschwand hinter der nächsten Ecke.
Ellen starrte ihm eine Weile nach, dann stand sie auf, stellte das Buch in sein Regal zurück und ging.
Adrenalin II - Das 15. und letzte Kapitel
05.04.2023
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