Woche Elf
Tharkad City, Tharkad
Mark Donegal, Vereinigtes Commonwealth
3.2.3055
Das Glas vor ihr enthielt einen ziemlich abstrusen Cocktail. Das Getränk war oben zyanblau, in der Mitte dunkelgrün und unten violett. An und für sich hielt sie ja nicht so viel von Alkohol und Cocktails, aber seit drei Tagen war ihr alles egal.
Ellen hatte sich zuerst in ihre Wohnung eingesperrt und einen Tag lang geheult.
Dann hatte sie beschlossen, dass sie auf andere Gedanken kommen musste. Wenn sie noch lange in Selbstmitleid zerflossen wäre, hätte sie sich noch erhängt oder eine Überdosis von was auch immer genommen.
Jetzt betäubte sie ihren Verstand dagegen nur mit Alkohol und tötete lediglich ihre Neuronen ab.
Nach dieser verpatzten Prüfung hatte sie sowieso keine Verwendung mehr dafür. Sie hatte das alles nicht nur gut, sondern erstklassig machen wollen, hatte alles Andere um sich herum ignoriert, hatte es sich mit ihren Freunden verscherzt – und ein Nicht-bestanden dafür bekommen.
Der Cocktail lachte sie an und sie nahm einen großen Schluck. Sie sah fasziniert hin. Wenn man das Glas schwenkte, vermischten sich die Farben.
"Ellen?"
Sie zuckte zusammen. John. Vor ihr. Er starrte sie an, als hätte er einen Geist gesehen.
Nun, sie hatte im Moment auch etwas Geisterhaftes.
"Is´ was?" Sie sah ihn angriffslustig an.
"Was tust du hier??"
"Nach was sieht´s denn aus?"
Er schwieg. Ellen realisierte erst jetzt, dass er mit einigen anderen Kerlen da war. Wollten wohl das Semesterende feiern. Nett.
John sagte kurz etwas zu seinen Begleitern, die daraufhin ins Hintere der Bar gingen.
Dann setzte er sich zu ihr. "Hey, du solltest das echt lassen."
"Hab´ ich dir erlaubt, dich dazu zu setzen?"
Er zögerte einen Moment, lächelte dann kalt: "Fängst du jetzt wieder an? Ich dachte, du hättest was dazu gelernt."
Sie sah gedankenverloren auf ihr Glas und zischte: "Ach, halt´s Maul!"
"Wie du willst." Er stand auf, drehte sich um und ging. Sie hielt ihn nicht auf.
Ellen starrte ihm nach.
Sie vermisste es, mit ihm und den anderen herumzuhängen. Inzwischen tat ihr das fast körperlich weh. Aber sie war nicht die Person Mensch, die einen Fehler leicht eingestehen konnte. Oder darüber reden konnte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ihr Inneres schrie ja danach, ihm nachzulaufen, sich die Seele bei ihm auszuheulen und sich zu überzeugen, dass er sie noch immer mochte. Er und die Anderen. Der Gedanke an Sergej huschte kurz durch ihren Kopf.
Verdammt.
Als sie es Sergej gesagt hatte, hatte der sofort einen Urlaub beantragen wollen, um sie zu besuchen und zu trösten, aber Ellens Stimmung war bereits da schlecht gewesen. Sie hatte niemanden sehen wollen, erst recht niemanden, mit dem sie Angenehmes verband. Sie hatte anfangs noch relativ höflich versucht, ihn davon abzuhalten, zu nahe an sie heranzukommen. Als sie gemerkt hatte, dass er sich davon nicht abhalten ließ, war sie ziemlich ausfallend geworden und hatte ihm auf deutlichere Art gesagt, dass sie ihre Ruhe haben wollte.
Er hatte – wie erwartet – ziemlich angesäuert reagiert und sich seitdem nicht mehr gemeldet.
Ellen seufzte angestrengt auf. Warum verstand eigentlich niemand, wenn sie niemand sehen wollte und einfach mal untergehen wollte?
Sie tat das selten, aber wenn sie es tat, dann wollte sie es.
Wieder nahm sie einen Schluck aus ihrem Cocktail. Der Drink trug zwar den Namen Tempest, aber bisher war der Name nur ein leeres Versprechen gewesen. Sie nahm einen letzten Schluck und starrte auf die Wand vor ihr. Es war ihr, als würden um sie herum nur glückliche Menschen sein, zufrieden, dass das Semester in seinen letzten Zügen war.
Ellen war wütend. Auf alle hier. Und auf sich.
Als sie zuhause ankam warf sie sich müde auf ihr Bett und verfluchte die Welt.
Ihr Blick fiel plötzlich wieder einmal auf dieses kleine Büchlein. Sie überlegte, zögerte und griff plötzlich zu. Dieses scheiß Semester sollte wenigstens irgendeinen Sinn haben.
Kapitel Vierzehn
Lovely Home, Liezen
Tamarpakt, Vereinigtes Commonwealth
26.2.3032
Er stand am Rand der Klippen und starrte hinab.
Dieser Anblick machte ihm Spaß. Ellick sah sich selbst darin, sah alles und nichts. Er konnte seine Gefühle nicht beschreiben, wenn er auf das Meer sah.
Jemand näherte sich. Ellick musste sich nicht besonders anstrengen, um herauszufinden, wer da auf ihn zukam. Die Schritte waren leicht, fast schon beschwingt, hatten fast etwas Abgehobenes. Die Schrittfrequenz war hoch und dieser Jemand, der sich ihm näherte, trat leise auf. Ellick drehte sich nicht um, sondern fragte, als der Störenfried direkt hinter ihm stand: "Was gibt´s Pablo?"
AsTech Pablo Gomez räusperte sich: "Wir wären dann soweit."
"Gut. Ich komme gleich."
Gomez ging wieder zurück, ließ Ellick zurück, der still weiter auf die See starrte und keinerlei Anstalten machte, dem AsTech zu folgen. Einer der nervtötenden Vögel landete neben ihm und sah Barny kurz an. Der Leutnant lächelte. Hier fand er einen Frieden, der ihm bisher fremd gewesen war. Er mochte dieses Gefühl, obwohl sein genereller Gefühlszustand durch solche Dinge wenig geändert werden konnte. Die Tatsache, dass er seit einigen Monaten bereits hier Dienst tat, änderte nichts daran, dass er seine Vergangenheit nicht vergessen, oder ignorieren konnte. Ellick war, was er war. Jemand, der seine Gegner auf eine überaus grausame Weise zur Strecke brachte. Sicher, er tat das nur, um zu verhindern, dass seine Seite mehr als nötig blutete, aber das war ein schwacher Trost für den Teil seiner Seele, der verabscheute, was er tat. Wie ihm mal jemand erklärt hatte war der Weg in die Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Andererseits waren ihm solche klugen Sprüche egal, wenn es um den Wahnsinn da draußen ging.
Um eine nachhaltige Gemütsänderung in seinem Inneren zu erzeugen, war wohl mehr notwendig als ein paar Minuten hier herumzusitzen. Die Bestie in Ellicks Herz war immer noch zügellos und hatte wenig von ihrer Kraft verloren seit dem Vierten Nachfolgekrieg.
Plötzlich stand er auf und ging den Pfad hinunter zu seinem Stützpunkt, ohne sich umzudrehen.
Die Lyraner hatten das draconische HQ in Sichtweite. Ellick konnte den Eingang ganz gut erkennen. Es waren noch drei Kilometer. Der Stützpunkt ihrer Gegner war anscheinend eine natürliche Höhle, deren Eingang eng genug war, um gut verteidigen zu können. Ellick konnte eine Vielzahl hässlicher Geschütze erkennen.
Sie waren vor etwa sieben Stunden abmarschiert, nachdem das OK aus Lovely Home gekommen war. Und natürlich hatte Katek alles für dieses Finale aufgeboten, was er hatte. Mit Ausnahme der Infanteriegarnisonen.
Von den zerstörten Mechs hatten die Techs zwar keinen mehr aus dem Schrotthimmel zurück holen können, aber die, die nach dem Reinfall am Plateauabhang beschädigt gewesen waren, hatten sie wieder hinbekommen. Zumindest war die Streitmacht, die den Dracs jetzt gegenüberstand, nicht ganz chancenlos.
Barny checkte kurz den Status seiner Lanze.
Er war soweit einsatzbereit. Kozewksys Vulcan hatte zwar Einiges abbekommen, aber der Mech schien einen ähnlich robusten Dickschädel zu haben wie sein Pilot. Insgesamt konnte der Leutnant auch Kozewsky als einsatzbereit einstufen. Sarah war hinter ihnen zusammen mit den anderen verbliebenen Hubschraubern der lyranischen Besatzer gelandet und wartete auf ihren Einsatz. Und Erkow... war das arme Schwein, das die Geschichte später erzählt bekommen würde. Aber nun gut. Val war ja auch eindeutig nicht einsatzbereit, wie Barny mit einem gehässigen Lächeln feststellte. Aber bitte. Wenn er sich seinen Mech kaputt schießen und sich halb umbringen ließ, war das gewissermaßen sein Problem.
Ellick atmete tief durch, sah wieder auf seine Anzeige. Nun ja, sie waren nicht chancenlos, aber wenn sie versuchen würden, den Stützpunkt der Dracs frontal zu stürmen, würde es eine lyranische Tragödie der ganz besonderen Art geben. Die Dracs mussten nur verteidigen – und waren dabei gewaltig im Vorteil, beachtete man die Befestigungsanlagen, die Ellick bereits jetzt schon nur mit seinen Augen sehen konnte.
Wellerbeins Stimme erklang im TakKom: "Zentrum langsam vorrücken."
Vier der schwereren Mechs setzten sich in Bewegung. Der Angriff hatte begonnen.
"Rechte Flanke folgen."
Ellick und Robs Mechs setzten sich in Bewegung, dazu fünf Panzer. Barny lächelte amüsiert. Tonlos. Als wenn es in dieser Ausgangslage einen Unterschied machen würde, welche Flanke wie schnell folgte. Die Sache war einfach. Vor ihnen war dieses verdammte HQ und die Dracs standen geballt darin und würden jeden Angriff blutig zurückschlagen. Jetzt von Zentrum, rechter und linker Flanke zu reden war abgehobener Schwachsinn. Und das wusste Wellerbein. Aber was sollte er sonst machen, um seine Jungs und Mädels vom Grübeln abzuhalten?
Ellick rückte weiter vor.
"Linke Flanke folgen."
Die linke Flanke, bestehend aus einem Locust und einigen langsameren Panzern und Artilleriefahrzeugen setzte sich in Bewegung. Ellick durchzuckte wieder einmal der Gedanke, dass hier Lämmer zur Schlachtbank geführt wurden. Aber nein, er sah das alles viel zu eng. Kateks Plan würde funktionieren und dann sah das alles gleich viel entspannter aus.
Wellerbein erhöhte in seinem Cyclops das Tempo und die anderen Gruppen der Streitmacht taten es ihm gleich. Die rechte Flanke setzte sich ab, war schneller und beschrieb eine Art vorgelagerten Bogen, während die linke Flanke schon allein wegen ihrer geringen Gesamtgeschwindigkeit zurückblieb. Angesicht der Langstreckenbewaffnung dieses Angriffsverbandes war das allerdings auch so gewollt.
Sie kamen näher. Eineinhalb Kilometer oder so bis zum Höhleneingang.
Dort tat sich überhaupt nichts.
War klar. Die Dracs warteten ab und lachten sich vermutlich tot. Dieser Angriff musste wie der reine Selbstmord wirken, erst recht, wenn man sich vor Augen hielt, dass die lyranischen Mechs nicht besonders neu aussahen.
Bald würde es losgehen. Sie kamen wohl in den nächsten Sekunden in die Reichweiten der draconischen Langstreckenwaffen.
Ellick erhöhte wieder die Geschwindigkeit. Seine Gruppe folgte ihm, ohne seine Handlungen in Frage zu stellen. Wie immer. Beinahe wünschte er sich, heute würde seine Mannschaft das tun.
Seine Truppe würde den Gegner als erste erreichen. Die zentralen Mechs kamen ebenfalls näher, während die schweren Jungs von der Linken nur langsam näher kamen. Hinter ihnen stiegen die verbliebenen lyranischen Hubschauber, unter ihnen Sarah, auf und begannen ihren Zielanflug.
Barny sah etwas vor ihm aufblitzen und plötzlich wusste er, dass sie die optimale Entfernung für Langstreckenbeschuss erreicht hatten. Die Todeszone.
Die Ari-Panzer in der linken Angriffsflanke der Lyraner eröffneten ebenfalls das Feuer, obwohl diese weiter entfernt waren.
Direkt vor Ellick schlug eine Granate ein, während zwei LSR knapp an der Kopfpartie seines Mechs vorbeizischten. Ein Schwarm LSR traf den rechten Torso des Vulcan, der aus dem Gleichgewicht kam und stürzte.
Die Granaten der lyranischen Ari-Panzer waren vor dem Unterschlupf der Draconier eingeschlagen und verursachten zwar keine Schäden, aber dafür gewaltige Rauchschwaden.
Ellick lächelte plötzlich sein Raubtierlächeln.
Er hielt es für fraglich, ob die Draconier bemerkt hatten, dass dies kein klassischer Frontalangriff, sondern eine Falle war.
Nachdem die Rauchgranaten eingeschlagen hatten, hörten die Helikopter auf, auf die gegnerische Boden-Luft-Verteidigung zu achten und donnerten geradewegs auf den Eingang des draconischen HQs zu. Dann brachen die Kampfhubschrauber aus und ließen das Ferret alleine anfliegen.
Ellick sah, wie Sarah einen Moment benötigte, um sich zu orientieren. Dann brach sie durch den Rauch und... brach aus, flog zurück, entging den draconischen Flak-Geschützen nur knapp, die sich auf sie konzentrierten.
Die lyranischen Warrior erschienen plötzlich wieder und feuerten. Vielleicht zweihundert Meter vor dem Eingang.
Katek hatte einen lichten Moment gehabt, als er beschlossen hatte, dass nicht das Ferret, sondern die Warrior die Brandraketen tragen wurden. Selbst wenn die Dracs damit gerechnet hätten, wäre ihr Schicksal nicht zu ändern gewesen. Die Warrior griffen nicht in geschlossener Formation an, sondern aus unterschiedlichen Lagen. Einer würde so oder so treffen.
Ein gutes Dutzend Raketen verließ die Abschussvorrichtung und traf. Der enge Eingang, im Normalfall leicht zu verteidigen, füllte sich mit dem brennbaren Gemisch und stand von einem Moment auf den anderen in Flammen. Das Feuer schoss nach vorne, gleichzeitig ins Innere der Gänge und ließ keinen Platz für Kompromisse. Den draconischen Rebellen nütze keine ihrer Waffe mehr. Gegen diesen Angriff waren sie machtlos.
Kapitel Vierzehn Ende
Ein Klingeln an der Tür ließ Ellen hochschrecken. Sie fuhr zusammen, aus ihren Gedanken gerissen. Innerlich war sie immer noch bei der Geschichte. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass so etwas wirklich geschehen war. Und erst recht nicht, dass Wellerbein daran beteiligt gewesen war. Dieser nette, höfliche, völlig verplante Privatdozent. In Gedanken versunken ging sie zu ihrer Wohnungstür, öffnete und sah John überrascht an, der vor ihr stand.
Jeden hätte sie erwartet, nur nicht ihn. Erst recht nicht, wenn sie sich an die Beschimpfungen erinnerte, die sie ihm vorhin an den Kopf geworfen hatte. Andererseits war sie natürlich unter Alkoholeinfluss gestanden.
Ellen blickte ihn fragend an: "Eh, ja?"
"Hör mal, Ellen..."
"Ja?"
"Weißt du eigentlich, dass wir uns alle richtig viele Sorgen um dich machen."
Sie verschränkte die Arme, hörte weiter zu.
"Gut, wir waren dieses Semester nicht allzu verständnisvoll dir gegenüber, das muss ich zugeben, aber du warst auch echt widerlich."
"John, wenn du mir sagen willst, dass beide Seiten Fehler gemacht haben und es uns allen leid tut, dann sind das die falschen Worte."
Er sah sie betreten an: "Hast recht... Kann ich rein kommen?"
Sie nickte, ließ ihn in seine Wohnung und schloss hinter ihnen ab.
Adrenalin II - Das 14. Kapitel
05.04.2023
Kommentare
Bisher noch keine Kommentare.