Woche Sieben
Tharkad City, Tharkad
Mark Donegal, Vereinigtes Commonwealth
1.1.3055
Es war Schnee gefallen an diesem Dienstag Morgen. Natürlich war das nicht überraschend, in dieser Stadt fiel öfters Schnee. Allerdings war dieses Mal richtig viel Schnee gefallen. Ellen wusste spätestens jetzt, wieso sie dieses Jahresende zuhause geblieben war.
Dort, wo Ellens Bekannte und Freunde – vermutlich mit einer ansehnlichen Menge Alkohol – Silvester gefeiert hatten, würde es ohne Zweifel noch die komplette Woche eingeschneit bleiben.
So etwas gefiel ihr eigentlich. Das Wissen, für eine Weile unerreichbar und abgeschnitten vom Rest der Welt zu sein, hatte etwas Wildromantisches, wenn man genügend zu essen vorrätig hatte. Dieses Mal wäre es jedoch weniger romantisch gewesen, mit diesen Leuten Spaß zu haben.
Ihre Prüfung Anfang Februar rückte immer näher und sie hatte nicht vor, eine Woche untätig herumzusitzen und sich von wichtigen Dingen ablenken zu lassen.
Außerdem hatte es auch über Tharkad City mehr als genug geschneit. Eingeschneit war die Stadt natürlich nicht, dafür gab es hier zu gute Räumdienste, aber dennoch war die Hauptstadt des lyranischen Teils des Commonwealth in ein winterliches Weiß getaucht.
Zumindest reichte es für den ein oder anderen Schneeball.
Sie lag noch im Bett, streckt sich, starrte an die Decke, dann aus dem Fenster und murmelte einen kurzen Fluch. Eigentlich wollte sie ja nicht aufstehen, obwohl sie vernünftig sein wollte und obwohl sie ja sowieso nicht feierte. Und ihr war bewusst, dass noch eine Menge Arbeit vor ihr lag. Sie hatte noch die Vereinigungskriege zu lernen, die sie bisher noch links liegen gelassen hatte. Und natürlich die detaillierten Gründe für den Ersten Nachfolgekrieg und dessen Folgen. Es hieß zwar, ihr Prüfer würde so was nie fragen, aber sie wollte lieber kein Risiko eingehen.
Dann setzte sie sich auf, gähnte. Sergej hatte sie über Neujahr besuchen wollen, aber sie hatte ihm ebenfalls abgesagt. Er feierte jetzt auf seinem Stützpunkt und hatte sie wissen lassen, dass er ziemlich sauer war. Sie hatte das ignoriert und hatte also diesen Jahresübergang nicht gefeiert, eigentlich eine armselige Geschichte, wie sie selbst zugeben musste. Nun ja, zumindest war sie strebsam. Sie schüttelte sich, ignorierte diesen Gedanken. Dann stand sie auf, ging duschen.
Sie saß nach gut einer Stunde bei ihrem Frühstück. Sie hatte sich lange geduscht, dann ein wenig herumgetrödelt. Für irgend etwas musste dieser Tag ja gut sein.
Draußen war es immer noch dunkel.
Ellen gähnte, dachte einen Moment an das letzte Neujahr. Damals war sie mit einem gewaltigen Brummschädel neben einen Kerl aufgewacht, den sie erst auf der Silvesterfete kennen gelernt hatte.
Sie kickte unmotiviert mit ihrem Fuß gegen eines der Tischbeine.
Diese Fete vor einem Jahr war ganz in Ordnung gewesen, rechnete man den Tag danach weg. Und der Typ war süß gewesen, auch wenn er nur ein kurzes Abenteuer gewesen war.
Und nun war sie hier. Aber es half ja nichts.
Sie legte sich mit dem Buch über Liezen in ihr Bett und musste daran denken, dass ihr das allmählich etwas auf die Nerven ging. Dieses dauernde Ausleihen und Zurückbringen dieses Buches. Sie war geneigt dazu, demnächst alle restlichen Kapitel in einem Durchgang zu lesen... Oder doch nicht. Allmählich war es ein festes Ritual, immer nur ein Kapitel zu lesen.
Kapitel Acht
Owen-Wüste, Liezen
Tamarpakt, Vereinigtes Commonwealth
13.2.3032
Chu-i Andrej Tarsov lag im Sand und blickte nervös auf die näherkommende Streitmacht. Der Sand verdeckte ihn zwar ganz, aber vollkommen sicher fühlte er sich bei der Sache nicht.
Sein Kommandeur, Tai-i Takashi Kagame, hatte ihm und seiner Einheit befohlen, zu warten bis die lyranischen Einheiten auf dreißig Meter heran waren und den Infanteristen den Rücken zugewendet hatten. Dann erst sollten sie ihr Versteck unter dem Sand zu verlassen und die anrückenden Lyraner mit ihren Raketenfäusten, MGs und Granaten angreifen.
Natürlich war das Ganze ein ausgemachtes Himmelfahrtskommando, das wusste aber jeder hier. Und es hatte die Gemüter der Infanteristen etwas beruhigt, dass Tai-i Kagame selbst in vorderster Linie lag, um seinen Soldaten in ihrer Opferbereitschaft für das Kombinat um nichts nachzustehen.
Tarsov hatte bei der Besprechung dieses Plan Bedenken geäußert, die Lyraner könnten die Infanterieeinheit mittels aktiver Wärmescans finden, aber einer der drei DEST, die von den fünf Übriggeblieben waren, die hier gestandet waren, hatte diese Bedenken zerstreut, indem er erklärt hatte, dass die lyranischen Truppen, die auf Liezen standen, alles andere als kampferprobt waren und außerdem die Hitze der Körper unter der heißen Oberfläche des Sandes nicht besonders auffallen würden.
Andrej wäre trotzdem gerne woanders gewesen, erst recht, als er die Menge lyranischer Kampfmaschinen sah, die da auf ihn zukam. Insgesamt waren da zwei MechLanzen und zwei PanzerLanzen.
Die Lyraner stoppten plötzlich. Andrej lächelte. Wie Kagame gesagt hatte. Die Lyraner wendeten ihre Streitmacht, als der draconische Verband in Sichtweite kam. Die Draconier hatten sechs Mechs für dieses Gefecht aufgestellt, zwölf Panzer, die Infanterieeinheit, zu der Tarsov gehörte und fünfundzwanzig leichte Senkrechtstarter. Die Elsies waren offenbar so dumm gewesen, ohne Luftunterstützung anzugreifen, oder sie war noch nicht da. Ein alter Fehler von lyranischen Offizieren. Die Einheiten wurden erst am Ort des geplanten ETA zusammengefasst. Natürlich war es so sehr einfach, die vorrückenden Teilverbände einzeln auszuschalten. Egal.
Die Lyraner drehten seiner Einheit den Rücken zu. Tarsov blickte kurz auf seinen Abstandsmesser. Man hatte ihm gesagt, dass er bei einer Entfernung von dreißig Meter angreifen sollte und er hatte vor, diesen Abstand einzuhalten. Außerdem musste der Hinterhalt auf die Sekunde genau abgestimmt sein und die drei Angriffsgruppen, von denen Tarsov und Kagame zwei kommandierten, mussten unbedingt gleichzeitig angreifen. Noch dreißig Meter, bis es soweit war.
Er musste kurz daran denken, dass die DEST Spuren von einer draconischen Kampfeinheit in den Sand gesetzt hatten, um die Lyraner hierher zu locken. Die lyranischen Tankwagen hatten sie links liegen gelassen. Die Führungsoffiziere hatten es für klüger gehalten, die Elsies glauben zu machen, ihr Vorstoß sei unentdeckt geblieben. Beinahe hätten sie die Tanker wirklich nicht entdeckt. Es war einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, dass es anders gekommen war.
Tarsov sah sich sie die feindliche Einheit genauer an. Er konnte einen Commando eine Wasp sowie zwei Locusts sehen, dazu einen Firestarter, einen Vulcan und einen HermesII. Von den Panzern erkannte er nicht alle, aber es waren drei Galleons dabei, ein Goblin und zwei Scorpios. Über allem schwebte ein einziger Ferret, vermutlich zur Aufklärung. Insgesamt war außer den Mechs nichts da, das der Chu-i fürchten musste.
Er blickte nochmals auf den Abstandsmesser. Zwanzig Meter.
Noch war Zeit.
Manche Soldaten ließen in solchen Situationen ihr Leben Revue passieren. Tarsov hatte keine Vorstellung davon, wie so etwas funktionieren sollte. Er dachte zwar in nostalgischen Momenten auch oft an die Vergangenheit, aber so eine durchdringende und spirituelle Erinnerung hatte er noch nie erfahren. Er bezweifelte auch, dass es das gab. Vermutlich war das lediglich ein Gerücht, mit dem Offiziere ihre Soldaten beruhigen wollten, wenn es ans Sterben ging.
Zehn Meter.
Neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.
Der Chu-i schoss hoch, tauchte aus dem Sand auf und brüllte augenblicklich den Angriffsbefehl.
Neben ihm waren Tai-i Kagame und Chu-i Telman ebenfalls hochgeschossen. Sekundenbruchteile später waren die Soldaten oben.
Er war einen kurzen Moment lang stolz, dass seine Einheit die schnellste von den dreien war, als die RakFäuste und tragbaren KSR-Werfer der Draconier bereits Tod und Verderben spieen.
Die Lyraner waren komplett überrascht und bereits nach der ersten Salve der Draconier war einer der Galleons außer Gefecht. Den Draconiern den Rücken zugedreht zu haben, stellte sich in der momentanen Situation als erheblicher Fehler heraus. Die Heckpanzerung war für gewöhnlich die Schwachstelle bei jeder Kampfmaschine. Und die drei Angriffsgruppen hatten ihr Feuer auf drei Panzer massiert.
Kagame brüllte, dass man neu laden sollte. Unnötig.
Tarsov blickte sich um, sah seine Mannschaften mit dem erneuten Laden der RakFäuste und der Werfer beschäftigt.
Dann die zweite Salve.
Dass die Waffen kurz brauchten, um abzukühlen, wurde nicht beachtet. War auch nicht wichtig. Zwei Salven würden schon funktionieren. Und zu mehr würden sie eh nicht kommen.
Die Lyraner wendeten plötzlich und der Chu-i konnte sehen, wie zwei der Mechs, die beiden Locusts, auf sie zugerannt kamen. Die zweite Salve traf noch exakter als die erste und Tarsov hatte den Eindruck, dass zwei weitere Panzer, ein weiterer Galleon und ein Scorpio, kampfunfähig zurückblieben.
Kagame brüllte einen weiteren Befehl, ließ seine RakFaust fallen und stürmte voran. Tarsov folgte, genau wie jeder andere aus der Infanterieeinheit.
Sie hatten noch einen guten Moment, als ihre Handgranaten und ihre MG-Projektile die anderen Panzer trafen und weitere Schäden hinterließen.
Dann sah Tarsov hoch, sah einen der beiden Locusts vor sich stehen. Und konnte hören, wie die MGs des Mechs zu feuern anfingen.
Kapitel Acht Ende
Ellen klappte das Buch zu, gähnte. Und griff dann nach einem symbolischen Seufzer zu einem großen dicken Buch, das einen hässlichen, weinroten Umband hatte. Ellens Nachschlagewerk Nummer Eins, das hier von der Uni Tharkad herausgegeben worden war und so eine Art Bibel für Historiker aller Klassen und Nationen war.
Draußen graute allmählich der Morgen.
Als ihre Türklingel sie aus dem Halbtraum riss.
Sie starrte die Türe erst einen Moment lang irritiert an. Verdammt, es war noch nicht mal hell! Wer das auch immer sein mochte, vermutlich war er – oder sie – noch von der Silvesternacht übrig geblieben und noch nicht nüchtern. Jedenfalls bestand kein Zweifel, dass Ellen dieser Person absolut feindlich gesonnen war.
Dann stand sie auf, öffnete schwungvoll und verärgert.
Und sah Pedro und Sam vor sich stehen. Dahinter waren Carmen, die Planetologin und John. Ellen sah sie einen Augenblick mit offenem Mund an, bis Pedro sich lächelnd an ihr vorbei in ihre Wohnung drängte: "Sag bloß, du hast hier drin gefeiert."
Sie sah ihn giftig an: "Ich habe gar nicht gefeiert. Ich hasse Silvester."
John lachte leise und abfällig im Hintergrund, während Pedro weiter Boden gut machte und in ihre Küche eindrang.
Ellen drehte sich um, starrte ihn sprachlos an, als sich Sam und John ebenfalls vordrängelten. Sie hörte, wie Pedro an ihrem Kühlschrank rüttelte. Carmen blieb noch zurückhaltend und höflich, obwohl Ellen es ihr an der Nasenspitze ansehen konnte, dass sie auch in die Wohnung rein und Spaß haben wollte und wohl in den nächsten Sekunden würde sie fragen, ob sie mithelfen konnte, dieses Refugium in ein Schlachtfeld zu verwandeln.
Ellen fand wieder zurück zu Worten, wirbelte auf dem Absatz herum und rief wütend in die Küche: "Verdammt, was soll das??"
Johns Kopf erschien: "Ach, wir waren nur gerade in der Gegend und wollten mal vorbei kommen."
Sie seufzte schwer, hastete in die Küche und donnerte die Kühlschranktür zu.
"Ihr wolltet doch bei Sam feiern!" Sie setzte ab, sah entnervt in Richtung Carmen, die etwas betreten zur Decke sah. Dann zischte sie plötzlich: "Scheiße und was soll die hier?"
"Hey!" John sah sie verärgert an. "Stänker´ Carmen nicht an!"
Ellen sah zu John: "Wieder mal verknallt?"
Johns Kopf lief rot an, Pedro verschluckte sich an seiner Flasche Tharkad-Bräu.
Ellen sah Pedro entnervt an: "Also?"
"Eh..."
"Ja??"
"Also wir konnten nicht zu mir, weil über der Corgraigh-Kette gerade ein Wintersturm ist." Meinte Samantha, die als erste von den dreien begriff, dass mit Ellen heute weniger zu spaßen war.
"Blizzardtypus4." Flüsterte Carmen leise von hinten.
Ellen sah sie finster an.
"T´schuldigung." Murmelte Carmen und sah wieder zur Decke.
Die Hausherrin wandte sich wieder Sam zu: "Und jetzt müsst ihr dafür bei mir einfallen?"
"Na ja..."
John unterbrach Sam: "Wir haben Silvester im Wohnheim gefeiert und dachten uns nur..."
"...bei mir einfallen zu müssen??" vollendete Ellen den Satz wütend.
"Eh du, wir können auch wieder gehen." Meinte Sam etwas kleinlaut, während John Ellen nun seinerseits wütend ansah: "Wir dachten eigentlich, dass du dich freust."
"Tja, falsch gedacht. Verdammt, ihr stört beim Lernen!"
John drängelte sich wieder an ihr vorbei, dieses Mal in Richtung Ausgang und trampelte verärgert die Treppe herunter.
"Eigentlich ist sie ganz in Ordnung." Meinte Sam kurz, als sie zusammen mit Perdo, John und Carmen an einem Tisch der wenigen Bars saß, die an diesem Morgen geöffnet hatten. John hatte eigentlich wutentbrannt zurück ins Wohnheim rennen wollen, aber die anderen Vier waren der Meinung gewesen, dass er erst mal von Hundertachtzig auf Normalbetrieb herunterkommen musste.
"Hm." Carmen wagte es nicht, ihr zu widersprechen.
"Na ja, sie dreht im Moment einfach durch wegen ihrer Prüfung. Ich meine... so was passiert jedem von uns mal."
"Wirklich." Murmelte Pedro.
Carmen sah die Anderen so an, als würde sie ihnen kein Wort glauben.
Stille.
"Ach Scheiße!" zischte Samantha plötzlich und fuhr dann fort: "Sie sitzt seit Wochen nur noch über ihren Drecksbüchern und lernt. Ich glaube, sie hat das Leben völlig eingestellt."
"Wie du vorhin gesagt hast. So was kommt vor." Carmen zuckte die Achseln.
"Ja, klar. Aber sie hat in vier Wochen Prüfung und lernt schon das komplette Semester. Außerdem ist das nur eine Zwischenprüfung."
"Hm. Na ja, stimmt schon, die Geschichte ist etwas ungesund, so betrachtet. Aber mach dir mal keine Gedanken. Das biegt sich schon wieder von selbst hin."
Sam blickte Carmen ungläubig an: "Mal sehen. Jedenfalls tut´s mir leid, dass wir deine Stimmung ruiniert haben."
Die Planetologiestudentin winkte ab und lachte leise: "Lass gut sein. Ich gehör´ eh dringend ins Bett."
Kurz Stille.
Carmen sah mit einer Mischung aus Nervosität und Überraschung in Johns Richtung und meinte etwas angewidert: "Also alleine!"
Adrenalin II - Das 8. Kapitel
05.04.2023
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