Woche Fünf
Tharkad City, Tharkad
Mark Donegal, Vereinigtes Commonwealth
18.12.3054
Ellen lag auf ihrer Decke, bekleidet nur mit ihrem Bikini und umgeben von ihren Büchern, in einem der kleineren Schwimmbäder der Stadt. Vor ein paar Minuten war sie aus dem Solarium gekommen und nun würde sie faul auf einer Decke neben dem Becken liegen und irgendwann vielleicht zwei oder drei Bahnen schwimmen.
Diese Woche noch, dann war für eine Weile Ruhe.
Die Neujahrspause war eine überaus willkommene Ablenkung, die immerhin zwei Wochen andauerte. Wobei das Ganze sogar einen vernünftigen Hintergedanken hatte. Tharkad City würde statistisch gesehen die nächsten vierzehn Tage die kälteste Phase im Jahr erleben. So etwas machte, zumindest für Neubürger, ein normales Alltagsleben eigentlich nicht mehr möglich und etliche Studenten kamen von anderen Planeten. Bei Dreißig Grad Minus im Schnitt und achtzehn Stunden Dunkelheit konnte man einfach nicht normal leben, wenn man nicht hier geboren war. Abgesehen davon war Neujahr, was geradezu nach zwei Wochen Freizeit schrie.
Aber Ellen hatte diesmal keine Einladungen angenommen und sich auch nirgends selbst eingeladen.
Sie würde diese zwei Wochen mit Arbeiten verbringen. Sei es, dass sie lernen musste oder dass sie ihre Geldbörse mit S-Noten füllen musste. Sie hätte Sergej oder Ni anpumpen können, aber so etwas ging ihr grundsätzlich gegen den Strich. Sie stand auf eigenen Füßen. Hatte sie schon immer getan, seitdem sie von zuhause weggezogen war.
Sie seufzte, dachte nach.
Das alles war schon höchst eigenartig.
Vor einigen Jahren war sie noch auf ihrem Heimatplaneten Eutin versauert und heute lag sie in den Hallenbädern von Tharkad City und hatte so was wie eine echte Perspektive. Eutin kam ihr wie eine andere Welt vor, weit entfernt. Ein Traum oder Alptraum aus einem früheren Leben. Sie hatte zwar noch Kontakt mit ihren Verwandten und ihren anderen Bekannten von dort, aber sie konnte sich eine HPG-Nachricht nach Hause nur jeden Monat leisten und sogar das war finanziell schwierig.
Sie würde wohl nicht mehr nach Eutin zurückkehren. Abgesehen von Verwandtschaftsbesuchen – wenn sie einen Job bekam, mit dem sie sich so etwas leisten konnte.
Sie schüttelte plötzlich ihre Gedanken ab. Besser nicht über ihren Heimatplaneten nachdenken. Sie dachte zwar gerne an ihre Familie, aber nicht alles, was sie auf Eutin erlebt hatte, war schön gewesen.
Dann griff sie in ihre Tasche, streckte sich aus und schlug das Buch über Ellicks PyroLanze beim siebten Kapitel auf.
Kapitel Sieben
Lovely Home, Liezen
Tamarpakt, Vereinigtes Commonwealth
11.2.3032
Katek war kein herausragender Kommandeur, wenn man sich die momentane Krise betrachtete. Allerdings durfte man von einem Mann, der zur Garnison nach Liezen abkommandiert worden war, nichts anderes als Mittelmaß erwarten.
Mit Ausnahme des wahnsinnigen PyroFreaks.
Arnulf Wellerbein ließ sich in seinen Sitz zurückfallen und starrte kurz auf die Decke. Vor ihm war eine holographische Karte ausgebreitet. Er hatte Katek etliche Mal versucht zu erklären, dass ein Vorstoß in die Owen-Wüste nur Probleme bringen würde.
Sie hatten keine exakte Position ihrer Gegner und dort draußen in der Wüste würden sie nur unnötig Treibstoff verbrauchen, bis sie überhaupt eine Spur hatten. Von Dingen wie der Entblößung der wichtigen lyranischen Basen wie Lovely Home und Point Hope oder der Gefahr von einem Hinterhalt einmal ganz abgesehen. Alles wäre so viel leichter gewesen, wenn sie einen oder mehrere Satelliten im Orbit hätten. Aber hier auf Liezen... Wellerbein würde demnächst kotzen müssen, wenn er wieder an die geringe Bedeutung dieses Planeten dachte. Es war ja ganz nett, solange man keinen Arger hatte, aber wenn es dann einmal soweit war, wäre man dann doch lieber auf Tamar gewesen. Sogar Kirchbach schien um Dimensionen bedeutender zu sein, als dieser Staubball.
Und Katek verstand es einfach nicht. Der Oberkommandierende der Liezen-Miliz schien gewillt zu sein, diese Sache mit einem schnellen und harten Schlag zu beenden. Zugegeben, da war etwas dran. Selbst die Initiative zu ergreifen war für gewöhnlich auch Wellerbeins Art, aber nicht, wenn er im Dunkeln tappte, was Größe, Standort und Ausrüstung der Feindeinheiten betraf.
Katek war jedenfalls nicht mehr gewillt, die Angelegenheit grundlegend zu überdenken. Bei den Details nahm er Hilfe gerne an, aber er wollte anscheinend seinen Status als Kommandeur damit zementieren, dass er sich als großer Stratege, Taktiker und furchtloser Anführer hervortat. Ein Fehler. Arnulf Wellerbein wusste selbst gut genug, dass ein guter Kommandant offen für jeden Vorschlag sein musste. Gute Kommandanten legten keinen großen Wert darauf, ob man sie nun für fähig oder für mittelmäßig hielt. Gute Kommandanten ließen sich nach den Erfolgen messen, nicht nach dem Ruf.
Jemand klopfte an der Tür. Wellerbein sah hoch: "Herein."
Ela Thompson, Kateks Sekretärin, erschien mit einem Tablett, einer Tasse und einer Kanne unter dem Türrahmen: "Wollen Sie etwas trinken? Zuviel grübeln schadet, wenn man zuwenig trinkt."
Wellerbein runzelte die Stirn, schüttelte dann seinen Kopf: "Das ist sehr nett von Ihnen. Nein danke. Ich möchte nichts."
Sie zwinkerte ihm zu, stellte das Tablett ab und verließ das Zimmer.
Der Hauptmann sah ihr verdutzt hinterher. Was bildete die sich ein? Er hatte gesagt, dass er nichts wollte. Der Hauptmann war versucht, ihr hinterher zu gehen und sie zurecht zu weisen.
Er seufzte, wandte sich von ihr ab. Das Verhalten einer wichtigtuerischen Tippse konnte ihm egal sein.
Als er zur Seite blickte, die Kanne anvisierte und zu ihr hinging. Er schraubte den Deckel ab und sah hinein. Kaffee. Hm, er mochte keinen Kaffee. Das Zeug schmeckte ziemlich widerlich. Hatte er schon immer gefunden. Tee war eher seine Kragenweite. Anderseits konnte er sich ja mal eine Tasse genehmigen, um wach zu werden. Außerdem würde es ihn wirklich vom Grübeln abhalten. Er nahm das Tablett, stellte es neben die Karte und goss sich eine Tasse ein.
Hm, die Sache war wirklich kompliziert. Wenn sie ihre Gegner da draußen suchen und dann wirklich angreifen wollten, wovon sein Chef ja nicht abzubringen war, würden sie eine ganze Menge Land absuchen müssen. Die beiden Aufklärungsflugzeuge würden durchgehend fliegen müssen und dazu würden wohl die lyranischen Helikopter auch durchgehend im Dienst sein müssen. Natürlich würden die Hubschrauber dabei keine großen Reichweiten zurücklegen können.
Er nahm einen Schluck aus der Tasse.
Und wo sollten sie die Kampftruppen stationieren? Die Einheit, die gegen die Dracs zuschlagen sollte, musste schnell zum Einsatz kommen und hart zuschlagen müssen, was einer Massierung der lyranischen Truppen auf ein, zwei Positionen gleichkam. Er starrte auf die Karte. Das war unmöglich machbar, wollten sie Lovely Home nicht wie eine große wehrlose Zielscheibe aussehen lassen.
Wellerbein ließ sich frustriert in seinen Stuhl zurückfallen und starrte auf die Decke. Früher war das Ganze einfacher gewesen. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er seine Kompanie gehabt, seine Einheit, der er vertraut hatte und jetzt war er ein verdammter Subkommandant und war für all den hässlichen Kleinkram zuständig, für den er seine Vorgesetzten früher immer so verachtet hatte. Er hatte sogar seinen heißgeliebten Warhammer gegen einen Cyclops tauschen müssen, da jemand beim Oberkommando dieses Raumsektors der Meinung war, dass sich ein FrontMech wie ein Warhammer nicht für ein Mitglied der Kommandomannschaft gehörte. Ein wahrhaft blöder Gedanke.
Sein Blick wurde plötzlich ernster und ein Anflug von Traurigkeit huschte über sein Gesicht, als er an Claudia dachte. An die Frau, die damals auf Camlann bei einem Gefecht gegen ein draconisches Widerstandsnest ihr Leben gelassen hatte. Und die er geliebt hatte. Es hatte seit ihrem Tod keine neue Frau mehr in seinem Leben gegeben.
Nach dem Krieg hatte er sich von seiner alten Einheit wegversetzen lassen, um nicht immer wieder an sie erinnert zu werden – obwohl es ihm schwer gefallen war, seinen alten Kameraden, die Camlann mitgemacht und noch immer am Leben war, Karlinger und Woitila, den Rücken zu kehren.
Er verscheuchte seine Gedanken, trank seine Tasse aus und füllte sich eine zweite ein. Nicht, dass es ihm schmecken würde, aber es lenkte ab.
Es gab noch Etliches zu tun. Keine Zeit, über ehemalige Katastrophen nachzudenken.
Zumindest Ellicks PyroLanze konnte er flexibel einsetzen und raus schicken. In Point Hope lagerte zwar eine Menge Nachschub, aber der Außenstützpunkt an der Küste war weiß Gott nicht so entscheidend wie das zentrale HQ hier.
Er dachte kurz nach. Feldwebel Anderson mit ihrem Ferret war gleichzeitig die Stärke als auch die Schwäche der Pyros. Die Schnelligkeit und Flexibilität des Hubschraubers konnte ein Gefecht ohne Probleme für Ellicks Truppe entscheiden, während die Einschränkung der Reichweite die Schwäche des treibstoffgestützten Ferrets war. Der Helikopter konnte, wenn Wellerbein sich korrekt erinnerte, 1500 Kilometer am Stück zurücklegen. Mit Reservetanks bekam sie dreihundert weitere Kilometer hin. Das war zuwenig für einen Einsatz irgendwo tief im Feindesland. Hätte sie einen Hubschrauber mit einem Fusionsreaktor geflogen, wäre die PyroLanze ganz klar die Nummer Eins der Lyaner auf Liezen gewesen. So blieb ein Beigeschmack.
Vielleicht konnte man das Problem damit lösen, dass man einen oder zwei Tankwagen auf vorgezogenen Posten in der Owen-Wüste postierte. Hm, war riskant, aber wenn Katek seinen Angriff so sehr wollte, würde es anders nicht gehen. Eigentlich konnte er gleich mehrere Tankwagen vorziehen. Wenn einer entdeckt wurde, blieben dann noch andere Alternativen. Außerdem konnte man die Reichweite des kompletten Kampfverbandes so erhöhen.
Ja, wenn er fünf von den zehn Tankern der Garnison jetzt losschicken würde, konnten sie in etwa einem Tag an einer aussichtsreichen Position sein.
Er lächelte. In seinem Kopf formte sich das Bild der Angriffsgruppe. Die AufklärungsLanze aus Lovely Home, dazu Ellicks PyroLanze, zwei schnelle PanzerLanzen und eine Hubschrauberkompanie. Das würde genügen. Die Dracs konnten gar nicht so viel Material haben, dass sie einen Verband, der von sieben Mechs angeführt wurde, besiegen konnte. Es waren zwar Dracs, dazu noch DEST, aber insgesamt war es doch nur eine mittelmäßig bewaffnete Widerstandszelle ohne nennenswerten Nachschub. Hoffte Wellerbein. Wenn es anders war, würde es natürlich eng werden – aber wenn er von diesem Fall ausging, würde er nur noch warten können. Und warten war ihm zuwider.
Er griff lieber an.
Er trank wieder an seiner Kaffeetasse und musste für einen Moment an Ellick denken.
Dass einer seiner Kommandeure ein Waisenkind, das dazu noch zu den Dracs gehörte, bei sich im Stützpunkt aufgenommen hatte, war ihm auch noch nie untergekommen. Katek hatte von dieser Geschichte nichts wissen wollen und abgesegnet. Der Major hatte momentan andere Sorgen im Kopf. Und ihm, Wellerbein, war die ganze Sache herzlich egal. Solange die Kleine den Stützpunkt nicht abfackelte, Spionage betrieb oder Ähnliches tat, konnte sie da ruhig bleiben. Man musste Ellick einfach seine Launen lassen, das hatte er seit Aubisson gelernt.
Das Felsennest erwachte langsam.
Gerard liebte die Morgenstunden des Tages, wenn es für wenige Moment weder zu kalt oder zu heiß war, sondern angenehme Temperaturen hatte. Es war außerdem nie viel los um diese Uhrzeit. Gerard wurde morgens selten von Leuten gestört, die etwas von ihm wollten.
An diesem Morgen war es anders. Er verzog kurz sein Gesicht, als er eine der Nachtwachen auf sich zukommen sah, seufzte und entschloss sich dann, höflich zu sein. Es half ja nichts, wenn er verärgert reagierte.
"Gerard!"
"Ja, Khalid?"
"Entschuldige die frühe Störung. Aber wir haben da eine sehr interessante Anfrage der Lyraner per Funk bekommen."
Gerard sah den anderen Mann irritiert an. Über Funk? Zum Teufel, woher kannten die Lyraner die Frequenz dieser Schmugglersiedlung? Jedenfalls würde er sich diese Anfrage anhören, schon alleine, um die möglichen Gefahren abschätzen zu können, wenn er ablehnte.
Er nickte Khalid zu und ging mit.
Kapitel Sieben Ende
Sie hatte im Hallenbad sogar wirklich die Muse zum Lernen gefunden.
Ellen stapfte danach durch ein lockeres Schneetreiben heim. Neben ihr fuhr gerade ein Taxi los, dahinter stand einer der neuen Schwebe-Busse schon in den Startlöchern. Sie ignorierte die Mitfahrgelegenheiten. Sie hatte kein Geld für solche Späße und außerdem war gegen einen gemütlichen Abendspaziergang bei etwas Schneetreiben ja nichts einzuwenden, auch wenn es klirrend kalt war. Man gewöhnte sich eigentlich schnell an das Wetter auf Tharkad, wenn man hier lebte. Und Tharkad war ja nicht an einem Sommerabend kolonisiert worden, wie man hier zu sagen pflegte.
Als sie durch die Straßen ging, im Schutz der kalten Dunkelheit, die etwas Angenehmes hatte, musste sie daran denken, dass sie sich vor drei Tagen für diese nervtötende Zwischenprüfung angemeldet hatte. Nicht, dass das etwas ändern würde. Aber die Anmeldung für eine Prüfung war ein großer Schritt, wenn man das so sagen konnte.
Wie auch immer.
Als sie nach einigen weiteren Minuten das Haus betrat, in dem sie wohnte, spürte sie wie eine angenehme Wärme sie umschlängelte.
Adrenalin II - Das 7. Kapitel
05.04.2023
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