Sitzung Acht:
Säule von Stahl
Tharkad City, Tharkad
Mark Donegal, Vereinigtes Commonwealth
17.7.3054
Eine Hitzewelle
hatte die Stadt erfasst und halb Tharkad sprach bereits von einer globalen
Klimakatastrophe... Nun, die Medien benötigten ja schließlich
immer wieder aktuelle Weltuntergangshypothesen, um die Kundschaft bei
Laune zu halten. Aber dieses Mal glaubte niemand so recht daran. Solche
Sommer kamen, wie der lyranische Hofmeteorologe lächelnd gesagt hatte,
in erstaunlicher Regelmäßigkeit alle fünfzehn bis zwanzig
Jahre vor und waren eigentlich ganz normal. Ein einfaches statistisches
Phänomen... Und trotz einiger durchaus negativer Erscheinungen
wie zwei gewaltiger Waldbrände im Osten von Tharkad City, die kaum
unter Kontrolle zu halten waren, oder den Dutzenden von Menschen, die
wegen Hitzeschlag in den planetaren Krankenhäusern lagen, gab es
hin und wieder auch durchwegs positive Folgen der Hitze. Zumindest für
Sergej, Nihongi und John, die wirklich Gefallen daran fanden, dass sich
ihre Kommilitoninnen - den Temperaturen entsprechend - recht spärlich
bekleideten. Dann natürlich die Tage am See, denn niemand, wirklich
niemand, hatten sie grinsend festgestellt, konnte und wollte von ihnen
verlangen, sich momentan in stickige, überhitzte Vorlesungssäle
zu quetschen.
Auch an diesem Tag waren der Saal ziemlich schwach besetzt. Wellerbein
trat mit einem Grinsen an sein Pult, packte - der Hitzewelle zum Trotz
- auch heute seinen heißen Kaffee aus, stellte seinen Holokarte
auf, dann packte er seine Unterlagen aus seiner Tasche, trank einen Schluck
und wandte sich dann an seine Hörerschaft: "Zuerst einmal freut
es mich, dass Sie trotz der Seen und Liegewiesen
zu mir gefunden haben... Obwohl Sie, wenn ich ehrlich sein darf, diesen
Ausnahmesommer schon genießen sollten. Ehrlich gesagt wäre
ich jetzt auch lieber dort und nicht hier..."
Lachen in den Reihen... Er redete weiter: "Trotz allem wollen
wir uns heute um ein Kapitel im Vorlesungsstoff weiterbewegen... Heute
dreht sich alles um ein ganz spezielles Kapitel, das schon so manchen
schweren oder überschweren FrontMech an den Rand des Verzweifelns
gebracht hat: Hit-and-Run. Der Erfolg dieser Taktiken ist abhängig
von der Erfahrung der betreffenden Piloten, vom Gelände, von der
Kenntnis über das Gelände und natürlich von den MechTypen,
die eine solche Operation durchführen. Man muss wahrlich kein Genie
sein, um die Vorhersage zu treffen, dass zu einem solchen Manöver
vorwiegend schnelle Mechs zu gebrauchen sind. Weiterhin sollte klar sein,
dass der Angreifer folgende Worte in einem Hit-and-Run - Angriff verinnerlichen
sollte: Schnell rein und noch schneller raus! Und dabei trotzdem immer
mehr Schaden austeilen als einstecken... Sicher, man kann das auch komplizierter
und akademischer ausdrücken, aber ich denke, diese einfache Binsenweißheit
trifft den Kern mehr als irgendeine hochgestochene theoretische Formel,
die Sie dann ja eh nicht verstehen würden... Und zum Schluss: Bis
zum letzen Moment unbemerkt bleiben! Klar? ... Gut. Dann also heute eine
Geschichte, die sich im Zweiten Nachfolgekrieg zugetragen hat, 2854, in
den bergigen Regenwäldern des Planeten Dehgolan. Verteidiger waren
die Lyraner, Angreifer die Draconier...
Miyogis Marathon war in vollen Zügen. Und der Arm des Drachen bereit...
Chu-i Takagi Fushiko war einer von vielen draconischen Offizieren, die
so dachten. Sie würden die Lyraner bald von dieser Welt vertrieben
haben und dann würde es weiter gehen... Immer weiter. Koordinator
Miyogi Kurita würde die Klauen des Drachen immer tiefer in das Lyranische
Commonwealth hineinstoßen und die VSDK würden dabei sein Werkzeug
sein... Der Gedanke, dabei helfen zu können, erfüllte Takagis
Herz mit Freude. Möglich, dass er fanatisch war... Aber das war in
diesem Falle nichts verwerfliches. Es diente ja dem Wohl des Drachen...
Takagi war Teil einer versteckten Einheit hier in den Regenwäldern,
weit hinter der Frontlinie, um den Feind immer daran zu erinnern, dass
der Drache überall lächelte. Takagis Mech, ein alter Clint,
war nur einer von vier Stück, die sich gerade an die Teki heranschlichen.
Links von ihm waren die Speerschleuder von Go-cho Kai Isako und der Heuschreck
von Gunjin Tenno Long. Rechts von ihm war da noch Shujin Shinji Kitsuharo,
einer der ältesten und erfahrensten Soldaten des ganzen Bataillons,
der einen Feuerfalken führte. Etwa zweihundert Meter vor ihnen verlief
eine alte Militärstraße, die sich durch die Berge und die Regenwälder
schlängelte und auf der die LCS dann und wann Verstärkung und
Ausrüstung zur Front brachte.
Seit drei Tagen war wieder einmal ein lyranischer Verband unterwegs, der
vorwiegend aus Munitionswägen und medizinischem Material bestand.
Gesichert wurde das Ganze durch zwei Kompanien mittelschwerer und schwerer
Mechs, die allerdings aufgrund der Länge des Zuges einige wenige
Minuten auseinander waren. Takagi hatte dem Trupp, der dort langsam vor
sich hinfuhr, schon längere Zeit aufgelauert. Und der Platz hier
war einfach perfekt...
Kitsuharo robbte mit seinem FFK langsam rechts weiter. Der Shujin hatte
den Feuerfalken auf den Boden gelegt, um so möglichst nahe an die
Straße heran kommen zu können. Heuschreck und Speerschleuder
waren etwas zurück, aber das machte nichts. Die hohe Geschwindigkeit
der beiden Mechs gestattete ihnen, diese paar Meter in wenigen Augenblicken
einzuholen. Takagi hatte seinen Mech ebenfalls zurückfallen lassen,
aber angesichts der Reichweite von Takagis Hauptwaffe, einer AK, war das
sogar beabsichtigt. Und die Lyraner kamen an ihnen vorbei... Natürlich
bemerkten sie die VSDK nicht. Wer rechnete auch schon hier, so weit hinter
der Front mit Angriffen?? Takagi hätte es getan. Aber das da waren
ja auch keine Draconier... Kitsuharo war keine fünfzig Meter von
der Straße entfernt, die anderen drei etwa hundert Meter. Selbst
hier, versteckt durch diesen dichten und hohen Regenwald hätte ein
Blinder sie inzwischen sehen oder wenigstens irgendwie bemerken müssen.
Der Chu-i lächelte abfällig...
Sein Schuss würde das Angriffskommando sein.
Als er fand, was er suchte.
Da war ein Dunkelfalke, der direkt neben einem Munitionstransporter dahertrottete.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht senkte Takagi sein Fadenkreuz über
dem Munitionswagen... Und erst jetzt, Sekundenbruchteile, bevor die Säule
von Stahl sich wieder einmal in das Herz ihrer Feinde bohren würde,
bemerkte der Dunkelfalke die aktivierte Autokanone.
Takagi schoss.
Der Schuss saß. Die AK entfaltete ihre gewaltige und tödliche
Feuerkraft und der Hagel an großkalibrigen Granaten, der sich blitzschnell
über seinen Gegner ergoss, traf in einem Sekundenbruchteil in dem
Wagen, der in einer gewaltigen Explosion hochging, zusammen mit der Munition,
die durch den Treffer ebenfalls gezündet worden war. Die zwei Transporter
daneben, beides
medizinische Transporter, verschwanden ebenfalls im Feuer und Rauch und
wurden in Stücke gerissen. Dem DKF, der neben dem Angriffsziel gestanden
war und sich ebenfalls im Epizentrum der Explosion befanden hatte, wurde
die Panzerung von seinem Metallskelett geschält. Kurz rührte
sich nichts, dann donnerten die beiden schnellen Mechs, der Heuschreck
und die Speerschleuder vor, während der Feuerfalke noch bewegungslos
liegen blieb und nach näherkommenden lyranischen Mechs Ausschau hielt.
Takagi bewegt seinen Mech nun aus dem Dickicht und visierte das nächste
Ziel, einen weiteren Transporter, an. Neben ihm hörte er Schüsse
und Schreie. Die beiden leichten hatten sich auf einige Transporter mit
medizinischem Personal und Infanterie gestürzt. Eine weiterte Explosion.
Der Chu-i hatte nun auch sein nächstes Ziel getroffen. Wieder ging
die Straße in einer gewaltigen Erschütterung hoch, wieder hatte
das Ziel Munition geladen gehabt... Von links näherte sich schnell
ein Greif, von rechts ein Zeus. Die Elsies schienen aus ihrer Starre erwacht
zu sein... Plötzlich stand der Feuerfalke auf, stand wie aus dem
Nichts neben dem völlig überraschten Greif, der sich ganz auf
die drei Mech vor ihm konzentriert hatte. Kitsuharo benötigte nur
einige wenige Sekundenbruchteile, dann feuerte er mit seinem schweren
Laser. Ein tödlicher roter Strahl, einer viel zu heißen Feuerwoge
gleich, ergoss sich über den Torso des schwereren Mechs.
Der Greif drehte sich behäbig...
Takagi lächelte. Kitsuharo hatte sich längst wieder zurückgezogen,
genauso wie Isako und Long.
Der Feind hatte sie nicht einmal beschädigen können und die
Beschädigungen, die sie verursacht hatten, waren akzeptabel. Sofern
diese Elsies wirklich dumm waren - und Takagi zweifelte nicht daran -
dann würden die LCS sie verfolgen und sie in die Nebelwälder
verfolgen, die die VSDK inzwischen zu ihrer zweiten Heimat auserkoren
hatten... Der Drache würde auch weiterhin lächeln.
Aber vorerst einmal hieß es, sich zurückzuziehen, in Bewegung
bleiben und neue Orte aufsuchen, auf denen man auf der Lauer liegen konnte...
Takagi murmelte leise einen Dreizeiler, als er seine Lanze tiefer in den
Regenwald hineinführte...
"Kurita ist Macht
Pfeiler von des Drachen Stahl
Siegreich über alles!"
Wellerbein brach ab und sah in die Gesichter seiner Studenten... Einige
waren verwirrt, andere wütend, andere wiederum erschreckt.
"Nun..." begann der Dozent mit einem Lächeln: "Es
mag sie schockieren, dass ich den Bericht eines
draconischen Offiziers im Kampf gegen die LCS so direkt vortrage, noch
dazu hier auf Tharkad, mit all den kleinen Bösartigkeiten, die der
Drache nun einmal Lyranern widmet... Seien Sie sich der Tatsache bewusst,
dass viele Berichte von VSDK, die sie vielleicht später bearbeiten
müssen, in ähnlich subjektiver Form abgehalten sind und ihr
Blut in Wallung bringen... Sind eigentlich Draconier hier?"
John schielte kurz auf Nihongi, der tief in seinem Stuhl versunken war
und nicht wagte, sich zu rühren...
"Keiner? Überrascht mich etwas. Immerhin sind Draconier und
Lyraner momentan nicht mehr ganz so verfeindet wie noch vor einigen Jahrzehnten...
Aber nun gut. Wollen wir uns dem Thema zuwenden..."
Ni war bemerkenswert
still an diesem Vormittag. Sie saßen heute vor dem McMurphys und
schlangen auch heute ihr zweites Frühstück in sich hinein...
Wellerbein hatten den kurzen Vortrag heute durch eine wesentlich längere
Nachbesprechung als sonst über ´Hit-and-Run´ kompensiert, darüber
dass viele Kommandeure den Fehler machten, ´Hit-and-Run´ mit Hinterhaltoperationen
zu verwechseln und darüber, welche MechTypen am geeignetsten für
solche Aktionen waren... Und er hatte ihnen nachdrücklich einzubläuen
versucht, dass Schnelligkeit alles war. Auch wenn das Ergebnis nur Nadelstiche
waren, entscheidend war die Schnelligkeit, wieder heraus zu kommen. Und
die Nadelstiche summierten sich bald...
John hatte sich zwischen Ellen und Sam gesetzt, die gerade dabei waren,
fröhlich ihr Frühstück herunterzuwürgen, die Diskussion
über den Sinn des Lebens aufrecht zu halten und sich dazwischen
über vorbeikommende Personen und deren Modegeschmack aufzuregen.
Aber es war richtig lustig, ihnen dabei zuzusehen und sich die Sonne auf
den Kopf scheinen zu lassen. Die Gespräche mit Ellen während
des letzten Wochenendes waren überraschend gut gelaufen und es schien
keine großen Probleme mehr zu geben. Zumindest hatten sie vernünftig
darüber geredet und diskutiert... Der Stich im Herz, wenn sie glücklich
in Sergejs Armen lag, blieb. Und würde bleiben, da war sich John
sicher.
Aber zuallererst war es ganz OK so wie es jetzt war. Er hatte sich noch
aufraffen können und diese Sache vergessen können, nicht zuletzt
wegen diesen Gesprächen... Jetzt standen erst mal die Schlussklausuren
an, drei Stück hatte John in diesem Semester zu schreiben, eine mehr
als die meisten seiner Kommilitonen aus dem Ersten und er gedachte, sie
zu bestehen. Vielleicht war es auch das gewesen, was ihn all diese Probleme
vergessen hatte lassen: Der Ehrgeiz, die Prüfungen zu bestehen.
War ja eigentlich egal...
Sein Blick glitt kurz zu Nihongi, der gerade in Gedanken versunken schien
und melancholisch vor sich hin frühstückte. July versuchte,
etwas nervös und unsicher, ihn gerade durch etwas Small Talk wieder
aufzubauen, aber John konnte sich denken, dass das nicht funktionierten.
Wellerbein hatte heute von der uralten Feindschaft zwischen Draconiern
und Lyranern erzählt und jedes Mal, wenn das geschah, schienen dunkle
Phantasien und noch dunklere Ängste in Nihongis Geist aufzutauchen
und alles hinwegzufegen, was ihn positiv machte. John konnte nicht behaupten,
dass er wusste, was in dem Drittsemestler gerade vorging, aber er verstand,
dass es ihn ziemlich fertig machte. Da half ein Bisschen Small Talk nicht
wirklich... Andererseits, was sollte July schon anderes machen...
Plötzlich sah er kurz zu Ellen herüber, bemerkte, wie sie mit
einem verliebten Lächeln mit Sergej sprach - und wusste plötzlich,
dass etwas anders war als in den ersten Wochen, die er so geliebt hatte.
Und erkannte, dass er vielleicht mehr Zeit als nötig brauchen würde,
um mit dieser Veränderung klar zu kommen.
Adrenalin I - Kapitel 10 - Säule von Stahl
05.04.2023
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