Adrenalin I - Kapitel 06 - Stadt der Tränen

05.04.2023

Sitzung Fünf: Stadt der Tränen
Tharkad City, Tharkad
Mark Donegal, Vereinigtes Commonwealth
19.6.3054

Ellen sah auf die Uhr, die an der Wand hing... Drei Uhr nachts. Sie konnte nicht schlafen. John schlief, hatte seinen Arm sanft um sie gelegt und röchelte neben ihr in dem Bett leise vor sich hin. Eigentlich war sie danach ja auch völlig entkräftet und müde. Heute war es anders, heute war alles anders. Wie das hier passiert war, wusste sie selbst nicht so genau... Alkohol und andere anregende Stoffe waren sicherlich nicht schuld daran gewesen, sie hatte nur einen einzigen Cocktail getrunken, einen mit viel
Fruchtsäften und wenig Alkohol... Sonstige bewusstseinserweiternde Stoffe hatte sie auch nicht zu sich genommen... Vielleicht war es der Zauber des Moments gewesen, dieses Glitzern in Johns Augen, als sie den Raum betreten hatte, als sie doch noch hier erschienen war, wenn auch mit gehöriger Verspätung... Dieses Glitzern, das ihr bewies, wie sehr sich der Erstsemestler gefreut hatte, als sie zu ihm gekommen war und allein mit ihrer puren Präsenz seine Stimmung in den siebten Himmel gehoben wurde. Dieses Glitzern, das sie meistens schwach werden ließ. Aber da war noch mehr gewesen. Diese nette, lockere Party, die keine von diesen langweiligen, überfüllten Saufgelagen war, sondern einfach nur nett war. Mit ihren kleinen Grüppchen, die entweder nur dastanden und small talkten, lachten, diskutierten, flirteten - oder zufrieden über Gesellschaftsspielen hingen... Alles hier schien glücklich, lustig und amüsiert. Eine Stimmung, von der sich Ellen wohl hatte tragen lassen, die ein einfaches, leichtes Leben ohne Konsequenzen vorgaukelte. Das war schön gewesen, zweifelsohne, aber nicht die Realität...
John schlief wie ein kleines Baby neben ihr... Röchelnd, friedlich, glücklich und zufrieden... Ellen drehte sich auf die Seite, starrte auf den Boden des Studentenzimmers. Sie hatte das nicht gewollt... Doch, sie hatte es gewollt, sonst hätte sie es nicht getan, aber... Ach, sie wusste nicht, was sie gewollt hatte und wollte. Sie hatten einen Moment die Konsequenzen ignoriert, die wohl kommen würden... Sie hatte nicht gewollt, dass es so ablief...
John würde vermutlich mehr wollen als nur eine Nacht... Er hatte von Anfang an den Eindruck auf sie gemacht, als ob er eine echte Beziehung wollte... Etwas langfristiges... Liebe.
Eigentlich war das auch etwas, das Ellen suchte...Aber mit John? Er war ein hervorragender Freund, jemand zum Reden, zum Lachen... Aber jemand zum Lieben? Ellen liebte ihn nicht. Sie hatte gewissermaßen kein Glitzern in den Augen, wenn er den Raum betrat... Bei Sergej war das anders. Dieser verschlossene Ex-MechKrieger erregte ihr Interesse auf eine ganz besondere Art und Weise.
John war so ... alltäglich... Ein gewöhnlicher farbloser 20-jähriger Erstsemestler mit ganz alltäglichen Träumen und Ängsten... Sergej musste man nur ansehen, dann wusste man, dass dieser Kerl ungewöhnlich und exotisch war. Womit der Ältere der beiden eigentlich schon gewonnen hatte... Sicher, John war liebenswert und nett. Richtig nett. Sergej hingegen der große dunkle verschlossene Unbekannte...
Einem von beiden würde sie weh tun müssen und sie befürchtete, dass derjenige John war. Sie stand leise auf, sammelte ihre Kleider auf, zog sich leise an und verließ das Zimmer...

Donnerstag, fünf nach Acht. Die meisten Besucher der Vorlesung saßen bereits in dem Raum. Aber diesmal saß Ellen weiter vorne, in der dritten Reihe, deutlich getrennt von den anderen sechs.
John wusste nicht so recht, was in ihrem Kopf geschehen war... Nach dem letzten Freitag hatte sich Ellen völlig von ihm zurückgezogen... Er wusste einfach nicht, was er falsch gemacht hatte. Sie reagierte weder auf seine Anrufe noch darauf, wenn er sie persönlich anredete. Es war, wie wenn der Traum urplötzlich in einen Alptraum umgeschlagen war...

Wellerbein betrat mit einem langen, unmotivierten Gähnen die Bühne. Er verbrachte die nächsten zwei Minuten damit, seine Tasche zu öffnen, seine Holokarte aufzubauen und anzuschalten... Dann holte er seine Unterlagen aus seiner Tasche und stapelte sie vor sich... Schließlich holte er sein wohl wichtigstes Utensil heraus, seine Kaffeekanne und für diesen kurzen Moment, als er sich den heißen Kaffee einschenkte, schien er alles um sich herum vergessen zu haben und mit sich selbst vollkommen glücklich zu sein... Dann sah er auf, die Studentenreihen an und wartete, bis die Gespräche abgeebbt waren und man ihm zuhörte. Er lachte amüsiert, grinste dankbar und erhob dann seine Stimme:
"Das letzte Mal haben wir hier einen der wohl bedeutendsten Faktoren im Zusammenhang mit MechGefechten behandelt: Den Fernkampf. Heute möchte ich - symbolisch gesprochen - den ungleichen Bruder des Fernkampfes besprechen, den Nahkampf. Nahkampf erscheint auf den ersten Blick archaischer und grausamer, ist allerdings ein absolut bedeutsamer Faktor, etwas das da draußen nicht wegzudenken ist, besonders wenn das Gelände den Einsatz von Fernwaffen nicht gestattet, wenn es zu Gefechten auf engen Gebirgspässen kommt, zum Dogfight mitten im dichtesten Wald oder einfach nur in deckungsbetontem Terrain... Oder in Städten..."
Er setzte kurz ab und wartete, bis sich die Unruhe, die seine Worte hervorgerufen hatten, wieder senkte. Dann redete der alte MechKrieger weiter:
"Natürlich ist es offiziell verboten, Städte anzugreifen oder sogar in ihnen zu kämpfen. Die Ares-Konventionen verbieten solche Aktionen unter der Androhung schwerer Strafen... Die Realität, meine Damen und Herren, sieht anders aus. Stadtgefechte waren schon immer ein Element der praktischen Kriegsführung und es ist nicht erst seit dem Auftauchen der Clans üblich, ganze Stadtteile in Schutt und Asche zu legen oder Zivilisten zu Tode zu trampeln... Dieser, etwas delikate, Punkt wurde
von der theoretischen Militärgeschichte schon immer todgeschwiegen. Aber es gibt eine Unmenge an Beispielen dafür. Nicht nur in der Peripherie, wo es keiner mitbekommt...
Ein besonders ´eindrucksvolles´ Beispiel ist die vierzehnte Schlacht um den Planeten Alexandria, als eine draconische Invasionsflotte, bestehend aus zwei MechBataillonen und vier konventionellen Panzer- und Infanterieregimentern im Jahr 2996 nahe der strategisch bedeutenden Stadt Fribourg landete...



"Trink! Trink, um zu vergessen..."
Die Dracs waren gestern gelandet. Ich sitze auf einem der gefallenen Mechs, zwischen den Ruinen der Vorstadt, auf dem zerbeulten und zerschossenen Rücken eines Vollstreckers.
"Trink!"
Der Infanterist steht am Fuß des Mechs und brüllt in die leere kalte Nacht des Planeten... Ich ignoriere ihn, habe meine Hand an meiner kleinen Kamera und filme die Verwüstungen in diesem Bereich der Stadt kommentarlos. Ohne jegliches Wort. Nur mein schwerer, angestrengter Atem ist zu hören und das Gebrülle meines Freundes da unten. Die Kamera ist mit einer besonderen Nachtsichttechnik ausgestattet, die es mir schon immer ermöglicht hat, ganz nette Beiträge zu senden, die etliche meiner
Kollegen schon immer blass vor Neid werden ließen... Aber mit einer normalen Kamera würde es vermutlich auch gehen... Die Feuer, die die Schlacht hinterlassen hat, geben dem Bild hier eine gewisse Helligkeit.
Nun versteh ich es... Versteh die Worte meines Chefs, der mir geraten hat, hier nach Alexandria zu gehen, wenn ich wirklich eine Herausforderung suche, so wie ich es ihm vor vier Monaten auf Skye gesagt habe. Ich habe schon viel erlebt in meiner Karriere als Journalist, als Kriegsberichterstatter. Aber was ich hier die letzten Stunden gesehen habe, hat mir das Blut gefrieren lassen. Und es war nicht so wie ich es gedacht habe. Die Draconier waren zwar die Invasoren... diejenigen, die das alles hier eingeleitet haben, aber die Lyraner, unsere Leute, standen den VSDK in Brutalität um nichts nach. Es ist hier nicht wie anderswo in der Sphäre, wie in der Peripherie oder wie in den Berichten über die Taten auf Kentares vor so vielen Jahren...
"Trink!"
Mein Freund da unten brüllt seinen Befehl noch einmal laut in die Nacht hinaus, dann sackt er plötzlich zusammen, gleitet zu Boden und fängt leise zu weinen an.
Ich halte meine Kamera wieder auf die Landschaft, auf die Ruinenstätte vor mir. Brennende Häuser, zerstörte Mechs und Panzer, tote Infanteristen und Zivilistenleichen. Als die Schlacht auf ihren Höhepunkt war, habe ich nicht gefilmt. Ich war hinter einer kleinen Mauer gesessen und habe geweint, gezittert, geschrieen, mir die Ohren zugehalten und gebetet, dass es vorbei geht. Gehofft, dass mich kein Mech zertritt oder eine schwere Waffe neben mir einschlägt. Mich hat die Angst noch nie so überwältigt... Ich habe schon mehr gesehen... Ich war auf Baxter, habe die Befreiung des Planeten durch unsere Truppen dokumentiert, habe die Gräueltaten von Peripheriepiraten gefilmt und war auch schon zwischen den capellanischen Truppen und denen der AVS... Aber das hier... Niemals habe ich gesehen, dass irgend jemand so skrupellos über eine Stadt geht.
Ich höre etwas.
Jemand weint... Eine Kinderstimme.
Ich setze die Kamera ab und sehe mich um. Und sehe das kleine Mädchen, das gerade aus einer der Ruinen aufgetaucht ist. Schemenhaft. Vielleicht hundert Meter vor mir. Die Silhouette eines kleinen Mädchens, das dort umherirrt. Scheinbar auf mich zuläuft, zutorkelt. Ich springe eigentlich sofort von dem zerstörten Vollstrecker herunter und laufe dem kleinen Kind entgegen. Die Brände der Stadt und die beiden vollen Monde des Planeten, die gerade hoch am wolkenfreien Himmel stehen, lassen mich sie sehen, zu ihr laufen, lassen mich sie entdecken. Als ich ihr gegenüberstehe, nach vielleicht einer Minute steht sie da. Vor mir. Ich sehe ein dreckiges Gesicht, zerzauste blonde kleine Locken und verkrustetes Blut an ihrer Stirn und auf ihrer Kleidung. Ihre Kleidung... Kann man das noch so nennen, frage ich mich? Eine dreckigdunkle und an den Knien aufgerissene Hose, ein wohl ehemals roter Rollkragenpullover, der inzwischen dieselbe Farbe wie die Hose, dreckigdunkel, angenommen hat und ein Paar kleine schwarze Straßenschuhe. Ich lächle sie freundlich, sanft an und
gehe in die Knie:
"Ist schon gut, Kleine..."
Sie ist fünf oder sechs. Intelligente Augen. Leere Augen. Leerer Blick. Sie erwidert nichts und ich nehme sie an der Hand und führe sie zurück zu dem Mech. Mein betrunkener Kamerad kauert dort immer noch lallend und sieht nicht so aus, als ob ich ihm die Kleine anvertrauen sollte. Außerdem durchzuckt es mich schon alleine bei dem Gedanken, dass ich ein kleines Kind einem Militär anvertraue. Was ich vorhin gesehen habe, wie die VSDK und die LCS ohne die geringsten Skrupel die
Zivilisten niedermachten, die in ihrem Weg standen... So etwas prägt. Der Gedanke, dass mit der Kleinen hier dasselbe passiert...
Ich habe noch die gleichgültigen Worte des verantwortlichen LCS-Oberst im Kopf...
"Ein Toter mehr oder weniger macht auch keinen Unterschied mehr."
Als er befohlen hatte, die letzten Skrupel fallen zu lassen, um den Dracs mit der Sprengung eines mit Flüchtlingen voll gestopften Hochhauses besser den Weg versperren zu können...
Nein, ich muss die Kleine selber in Sicherheit bringen, soviel bin ich ihr - und mir - schuldig.
Aber ich wollte doch noch weiter vor, den nächsten draconischen Angriff dokumentieren. Meine Berufsehre wurde vorhin angeknackst. Dieser plötzliche Verlust von Mut, beziehungsweise dem irren
Selbstmordgefühl, das mich immer ausgezeichnet hat und mich Dinge tun ließ, die andere als Wahnsinn, Selbstmord oder Himmelfahrt abtun, das hat mich angestachelt. Ich muss weiter vor, zwischen die Kampfreihen. Wenn es mein Ende ist, scheiß egal! Aber wenn ich die Kleine zurückführen muss, dann zerbricht mein Vorhaben. Nun, vielleicht kann ich auf dem Rückweg die Kleine mit einbauen. Solche rührende Einzelschicksale, in einer zerstörten und brennenden Ruinenstadt sind ja bekanntlich immer ein Reißer. Ja.... Ich sehe den Bericht schon fertig in meinem Kopf... Der Gang zurück nach der Schlacht mit dem unschuldigen Opfer... Das wird mir weitere Preise einbringen.
Mit einem kurzen Wink sammle ich meinen Infanteristen ein, der mir und der Kleinen hinterher torkelt. Beim Anblick des zerstörten Mechs hat sich die Kleine sofort an mein Bein geklammert und zu zittern angefangen. Schön. Klischee. Ist immer gefragt. Meine Aufmerksamkeit gilt schon wieder der Ruinenstadt und ich filme durchgehend, tätschle daneben der Kleinen beruhigend ihren Kopf und bringe ihr verdrecktes Gesicht kurz in die Kamera. Kann ich die Kleine filmen, wenn sie an meinem Bein hängt? Ich löse ihren Griff, lasse sie vor mir her laufen und stolpern. Sie soll den Eindruck erwecken, dass sie gerade erst zurückläuft von der Schlacht. Ist die Szene zu gestellt?
Als ich gerade beschließe, sie zurückzuholen, höre ich Geräusche vor uns. Rufe, Stiefel. Militärisches Gehabe. Ich möchte augenblicklich in Deckung gehen und mich in eines der dunklen Löcher im Boden drücken, um der möglichen Gefahr zu entgehen, aber da ist die Kleine vor mir... Wenn sie denen in die Finger fällt... Ich sprinte vor. An die Kleine ran, reiße sie hoch, drehe mich um. Sie fängt zu schreien an. "Halt!" Der Befehl durchreißt die Nacht. Ich bleibe augenblicklich stehen. Schalte meine Kamera aus, lasse sie in einer Tasche verschwinden. Militärs haben was gegen Kameras. Besonders gegen laufende... Und höre und sehe sie näher kommen. Der erste aus dem Zug erreicht mich. Lyraner.
Er sieht mich kurz an, fragend. Dann hält er mir sein Gewehr vor die Nase: "Ausweisen!"
Ich nicke, greife langsam in meine Jackentasche und hole vorsichtig meinen Presseausweis vor, während ich die schreiende Kleine immer noch im Arm habe. Die anderen Soldaten erreichen uns nun ebenfalls. Ich muss vorsichtig vorgehen, sonst wird er schießen. Kein Zweifel. Er überfliegt den Ausweiß, hält mich aber dennoch im Auge - und mir sein Automatikgewehr mit dem Finger am Abzug vor meinen Körper. Als er den Ausweiß überflogen hat, bleibt er weiter angespannt, hat mich nun wieder voll in seiner Aufmerksamkeit. Er reicht meinen Pass weiter nach hinten, zu einem Stabsfeldwebel, wie ich an seinem Rangabzeichen zu erkennen glaube. Er sieht auf meinen Presseausweis, sieht mich an und gibt ihn mir. Mein direktes Gegenüber entspannt sich nun, nimmt die Waffe herunter, sichert sie und geht schnell davon, scheint, irgendwo eine neue Stellung einzunehmen. Ich lasse die Kleine runter und der Feldwebel räuspert sich kurz:
"Was wollen Sie hier draußen?"
"Meiner Arbeit nachgehen." Antworte ich lakonisch.
"Kriegsberichterstattung?"
Ich nicke.
Er starrt kurz zu Boden und erklärt dann: "Verschwinden Sie besser so schnell Sie können. Die Schlangen kommen bald wieder. Dann bleibt hier kein Stein mehr auf dem anderen."
"Ich weiß."
Er sieht mich irritiert an und ich antworte: "Irgend jemand muss das ja dokumentieren..."
Die Augen meines Gegenüber werden kalt: "Sie geilen sich daran auf, oder? Wenn wir uns gegenseitig umbringen?"
"Ich geile mich auch nicht mehr daran auf als Sie, wenn sie einen VSDK in Stücke schießen." Flüstere ich kurz... Dann zucke ich zusammen. Hätte ich nicht sagen sollen... War nicht gut...
Er sieht mich kurz an, nickt dann und murmelt: "Jedem das Seine, nicht?" Er sagt es ernst, ohne jede Art des Zynismus. Dann deutet er auf die Kleine: "Und was ist mit ihr?"
"Ich hab sie zufällig gesehen, im Trümmerfeld."
Der Feldwebel starrt auf die Kleine: "Du hast das überlebt?"
Sie versteckt sich hinter mir, sieht den Soldat aus sicherer Distanz unsicher an. Ich lächle, schiebe sie etwas vor, sehe sie aufmunternd an, möchte ihr sagen, dass sie diesem netten Onkel da vertrauen kann.
Möchte. Weiß, dass ich lüge. Hinter uns höre ich Geplärre, Schreie, einen Betrunkenen... Ich grinse in mich hinein. Sie haben meinen betrunkenen Kameraden gefunden. Der Feldwebel sieht sich zu dem Störenfried um, als plötzlich die Kleine ihre Stimme erhebt: "Ja, hab ich."
Es ist eine leise, sehr helle Stimme. Vibrierend. Vor Angst? Vor Kälte? Keine Ahnung... Ich sehe mich auch kurz um, sehe drei Soldaten, die den Betrunkenen, der sich nach Leibeskräften wehrt, wegzerren.
"Wie heißt du?" fragt der Feldwebel das Mädchen.
Sie schweigt, sieht ihn skeptisch an... "Ich heiße Arthur. Und du?" sagt er lächelnd und kniet sich zu ihr runter.
"Monika." Flüstert die Kleine die schüchterne Antwort.
"Du hast einen schönen Name, Monika... Wo sind deine Eltern? Weißt du, ob sie vielleicht schon in Sicherheit sind? Wurdet ihr getrennt?"
Monika sieht uns ohne jegliche Reaktion an: "Die sind unter dem Mechfuß."
Der Feldwebel bricht ab, sieht dem Mädchen ernst ins Gesicht, senkt dann seinen Blick, steht auf, dreht sich um, betrachtet das Trümmerfeld. Die Ruinen. Die Brände. Irgendwo am Horizont blitzt es.
Wahrscheinlich Artillerie. Er schweigt. Genauso wie ich oder sie. Er dreht sich wieder um, winkt einem aus seinem Zug:
"Hey! HG! Schnapp dir zwei Leute und bring sie hier zum HPG."
Der Hauptgefreite salutiert zackig, winkt sich zwei junge Gefreite, einen Mann und eine Frau her, packt die Kleine kurzerhand etwas schroff und marschiert mit ihr ab.
"HPG?" Frage ich.
Der Feldwebel nickt nur: "Bei uns ist sie nicht sicher. Aber sie werden es nicht wagen, ComStar zu attackieren."
Wir schweigen kurz...
"Danke." Murmle ich.
"Wofür?"
"Dass Sie ihr geholfen haben."
"Nichts zu danken, ich habe auch Kinder..."
Er spricht nicht weiter, bleibt mitten im Satz stecken und starrt auf den Horizont. Ich drehe mich in die betreffende Richtung - und sehe zwölf Mechs. Die langsam näher kommen. Sind vielleicht noch zwei Kilometer weg. Der Feldwebel winkt einer Obergefreiten mit einem Funkgerät: "OG Ellinger! Meldung an HQ, feindliche MechKompanie in Bezirk11 entdeckt. Nähert sich Zentrum!"
Er wendet sich zu mir um: "Sie können natürlich gerne bleiben, wenn Sie den Tod suchen."
Ich ignoriere seinen trockenen Kommentar und frage: "Sie bleiben auch hier?"
"Ja."
"Wieso?"
"Wir werden versuchen, ihren Vormarsch etwas zu verlangsamen."
Ich muss aufpassen, dass ich nicht laut lache, grinse kurz und erkläre dann: "Aber das ist doch Wahnsinn. Sie sterben doch alle."
Der Feldwebel nickt. "Ich weiß. Aber unser Befehl lautet, diesen Sektor zu halten. Wenn wir uns zurückziehen, klagt man jeden in diesem Zug der Feigheit vor dem Feind an. Dann werden wir entweder eingesperrt oder von den eigenen Leuten erschossen..."
Er setzt kurz ab, lächelt dann und flüstert: "Wenn wir im Gefecht sterben, dann bekommen unsere Angehörigen zumindest die Nachricht, dass wir in Ruhm und Ehre für das Vaterland gefallen sind."
Der Sarkasmus in seinen Worten ist nicht zu überhören, macht das Gesagte lächerlich.
Ich wende mich ab, sehe zu den Mechs herüber, merke, wie plötzlich die Soldaten das Interesse an mir verlieren und der Stabsfeldwebel seinen Zug mit einem Wink vortreibt, in die Richtung der Mechs. Ich sehe ihnen hinterher, bleibe eine Minute in der Dunkelheit stehen, greife dann in meine Tasche und hole meine Kamera wieder raus, schalte sie an und folge den Selbstmördern leise.
Etwa zehn Minuten später fallen die ersten Schüsse. Ich habe mich inzwischen durch totes Gelände gekämpft, zerschossene und ausgebrannte Hochhäuser, Kelleranlagen, aus denen es qualmt, Häuser mit niedrigen Stockwerken, von denen nur noch ein Bruchteil der Mauern zu stehen scheint. Manchmal stehen auch nur noch eine oder zwei Wände. Die Straßen sind voll mit zerschossenen Fahrzeugen, einigen zivilen und ziemlich viel militärischen. Hier eine abgetrennte Laterne, die auf der Straße liegt, da eine Häuserwand. Und zerschossene Mechs. Und Leichen. Manche verkohlt, manche blutig. Ich fühle dieses mulmige Gefühl, wenn sich mein Magen umdreht. Ich sehe weg... Gehe vorbei und sehe nicht hin. Wieder brennende Häuser... Der Kunststoff, mit dem hier alles gebaut ist, brennt anscheinend hervorragend... Ich höre, wie ein lautes und schrilles Zischen die Nacht durchfährt. Eine KSR-Salve durchzuckt die Nacht, donnert ihrem Ziel entgegen und etwas explodiert. Körperfetzen fliegen durch die Luft. Auf die KSR folgt eine Autokanone. Dann Stille. Ich filme alles aus einer geschützten Position. Der draconische Mech, allem Anschein nach ein Dunkelfalke, wartet kurz, bis drei andere Mechs zu ihm aufschließen. Ein Jenner und zwei Panther. Ich filme weiter... Überlege kurz... Wie wird die Schlagzeile lauten? ´Heldenhafte Soldaten sterben im Kampf für die Heimat´?
´Selbstmordsüchtige Bodenhüpfer´? ´Schwere Kämpfe auf Alexandria´? Muss ich noch überdenken... Die vier Draconier rücken weiter vor. Setzen sich von ihren anderen acht Kameraden ab.
Nach Westen, während die anderen beiden Lanzen nach Norden abziehen. Die vier Mechs kommen auf mich zu... Ich schleiche aus meiner Deckung, laufe in der Dunkelheit auf das Kampfgebiet zu, als
plötzlich vier lyranische Mechs am Horizont erscheinen. Ich drehe mich in diese Richtung, erkennen einen Kommando, einen Feuerfalken, einen Brandstifter und eine Wespe. Ich beschleunige meine Bewegungen, laufe, achte aber darauf, dass ich stets ungesehen im Schatten bleibe, dass die grausamen Götter aus Stahl mich dort oben nicht entdecken. Ich erreiche die Stelle, an der die KSR eingeschlagen haben. Leichen, verbrannte und zerfetzte Uniformen, Tod, Stille. Ich filme alles, gehe langsam durch die Landschaft, höre plötzlich jemand wimmern, leise, voller Schmerzen. Ich halte meine Kamera in die Richtung, aus der die Laute kommen... Eine Frau, Anfang Zwanzig in der lyranischen Soldatenuniform. Ich kann mich nicht mehr an mehr sie erinnern, ihr Gesicht ist völlig verdreckt und sie liegt in einer Blutpfütze. Ich gehe auf sie zu, halte mit der Kamera drauf... Ihr rechtes Bein ist ab dem Kniegelenk abgerissen. Es blutet aus ihr heraus... Es dauert nicht mehr lange. Wer ihr in ihr zitterndes, totenblasses Gesicht sieht, erkennt das nur allzu schnell. Ich filme weiter. Filme sie, die mich ansieht und ganz leise ein "Bitte... Hilfe..." piepst. Natürlich reagiere ich nicht darauf, es würde mir die ganze Szene versauen. Plötzlich hört sie auf, sich zu bewegen. Ich bewege mich zurück, wende mich von der Toten ab. Wie durch Zufall sehe ich in einer Ecke das schwere Funkgerät liegen, mit der die Obergefreite vorhin das HQ benachrichtig hat. Ich sehe kurz auf. Die beiden Einheiten sind sich ziemlich nahe. Aber von meiner momentanen Position kann ich dem Kampf nur bedingt folgen. Ich greife nach dem Funkgerät, hänge es mir um und steige eine Treppe hinauf, die nach oben, irgendwo ins Nichts führt. Nach vielleicht einer halben Minute erreiche ich ein Stockwerk, dessen Mauer nach Nordwesten weggebrochen ist. Ich bin vielleicht fünf Meter über dem Erdboden, habe eine geniale Sicht. Ich wage mich an den Rand der Plattform. Scheint nicht wegzubrechen. Gut. Ich sehe zu den Mechs hinüber. Die sind jetzt vielleicht dreihundert Meter voneinander entfernt. Die Lyraner nutzen die Deckung der zerstörten Gebäude aus, machen so einen Einsatz der PPKs der Panther unmöglich. Ich stelle das Funkgerät ab, schalte es ein, drehe etwas an den Kanälen und kann vielleicht nach ein paar Sekunden im Kanal der lyranischen Einheit da vorne mithören. Ich filme währenddessen... Höre das Rauschen und die Worte in meinen Ohren...
"Alpha an Wolf2: Rechts halten... Der Falke kriegt dich sonst."
"Wolf3 an Alpha: Die Panther drehen ab."
"Alpha an Wolf3: Richtung?"
"Wolf2 and Wolf4: Versuch näher an den Falken dran zu kommen."
"Alpha an Wolf3 und Wolf4: Den Panthern folgen und stellen. Haltet sie im Nahkampf, sonst seid ihr alle."
Ich sehe kurz auf, kann erkennen, dass der Brandstifter und die Wespe den beiden draconischen Panthern folgen und abdrehen. Während sich der Jenner und der Feuerfalke allmählich näher kommen.
"Alpha an Wolf2: Vergiss den Dunkelfalke, hilf mir bei den Jenner."
Der Kommando dreht ab und prescht vor, ziemlich unüberlegt, auf der Hauptstraße am Feuerfalken vorbei.
"Alpha an Wolf2: Was soll diese Scheiße?? Sofort zurück in Deckung..."
"Wolf2 an..."
"Wolf3 an Alpha!! Wolf3 Alpha!! Feindkontakt."
Eine gewaltige Explosion zerreißt die Nacht. Ich schwenke meine Kamera dorthin. Sehe das Kampfgebiet nicht ein, ist hinter einem Hochhaus.
"Alpha an Wolf3! Meldung!"
"Alpha an Wolf2: Zurück ins Glied!"
"Wolf4 an Alpha... Schwerer Beschuss... Wolf3..."
Die Verbindung reiß ab, einen kurzen Moment nur Rauschen.
Wie sehe ich auf. Halte meine Kamera voll drauf. Plötzlich taucht der Jenner vor dem Feuerfalken und dem Kommando auf, aus dem Nichts. Ich sehe es in meinen Augenwinkeln, ignorier es, halte die Kamera auf das Gebiet, hinter dem die beiden Panther stehen. Plötzlich zuckt ein azurblauer Strahl in die Nacht. Sekundenbruchteile später mischt sich das Blau mit der tiefroten Farbe, die nur Infernos oder Flammenwerfer verursachen.
Jemand brüllt in der Funkverbindung vor Lachen auf: "Ich habe das Schwein geröstet!!! Alpha! Wolf4 an Alpha!! Er brennt! Die verfluchte Schlange brennt!!"
Der Jenner läuft mit höchster Geschwindigkeit auf den Feuerfalken zu.
"Alpha an Wolf4: Beruhig dich. Was ist mit Wolf3?"
Der Kommando bricht plötzlich aus und belegt den Draconier mit einem tödlichen Regen aus zehn Kurzstreckenraketen. Dann feuert der Feuerfalke seinen schweren Laser ab. Der genauso wie die KSR treffen.
"Wolf4 an Alpha: Wolf3 gefallen."
Plötzlich taucht der Dunkelfalke hinter den beiden Lyranern auf. Der Jenner schwankt... torkelt zurück und der Kommando zögert.
"Wolf2 an Alpha! Wolf2 an Alpha! Der Dunkelfalke..."
"Alpha an Wolf2: Beruhig dich! Konzentrier dich auf den Jenner."
"Alpha an Wolf4: Position halten!"
Der Feuerfalke prescht vor, volle Geschwindigkeit. Hinter dem Hochhaus explodiert wieder etwas... Laserstrahlen, Raketen. Ich höre das typische Geräusch, wenn sich Panzerplatten abschälen. Ich sehe zu dem Dunkelfalke hin... Der ist keine fünfzig Meter von den Lyranern entfernt. Wieso schießt er nicht?? Etwas regt sich hinter dem Dunkelfalke. Der Feuerfalke ist direkt an dem Jenner dran, keinen Meter vor ihm entfernt - und rammt die bereits angeschlagene draconische Maschine... Der Kommando wendet, hat den Dunkelfalken im Visier. Wieder wird das Gebiet hinter dem Hochhaus in tiefes, heißes Rot getaucht. Ein Schlag ertönt in der Nacht. Ich sehe das Mündungsfeuer der AK. Dann die zweite AK. Beide treffen perfekt in den Rücken des ahnungslosen Dunkelfalken. Dann treten die beiden Stadtkolosse aus ihren Verstecken. Die kleinen Mechs sind in Verstecken, Häusern oder Garagen kaum zu entdecken, wirken auf den ersten Blick nicht wie Mechs. Die beiden neuen Mechs feuern wieder. Einer trifft wieder. Die zweite AK trifft nicht, geht daneben, reißt ein Stockwerk eines Hochhauses in Stücke. Der Kommando feuert. Der Feuerfalke steht wieder, vor dem liegenden Jenner und holt mit einem seiner Stahlfüße aus...
"Wolf4 an Alpha: Brauche Verstärkung! Vstärkng!!"
"Alpha an Wolf2: Hilf Wolf4."
Von den zehn KSR des Kommando gehen einige vorbei, aber vier oder fünf treffen. Der Feuerfalke tritt wieder zu. Der Jenner rührt sich nicht mehr. Der Dunkelfalke erzittert unter einem weiteren AK-Treffer - und geht zu Boden. Der Kommando dreht ab, eilt dem Brandstifter zu Hilfe.
Unnötig.
Ich sehe den übriggebliebenen Panther, wie er sich schnell zurückzieht...
Ich schalte das Funkgerät wieder aus, überblicke die Szene noch ein letztes Mal... Und fühle, wie mir schlecht wird. Wie ich gegen meine Galle ankämpfen muss. Und ich verfluche mein Dasein.



"Die vierzehnte Schlacht um Alexandria endete genauso wie die dreizehnte - oder wie die fünfzehnte geendet hat: In Tränen."
Wellerbein setzte kurz ab, sah in die Gesichter seiner Hörer: "Dieser Text stammt aus dem veröffentlichten Tagebuch von Patrik Shown, dem wohl berühmtesten, umstrittensten und suizidgeilsten Journalisten und Kriegsberichterstatter der Nachfolgekriege. Mit seiner nachfolgenden Reportage, in der er all das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, ungeschminkt veröffentlichte und in die Medien brachte, erreichte er wohl mehr als irgendein Militär in Tausenden von Jahren: Das Morden in den Städten hörte auf. Zumindest für kurze Zeit und im Zentrum der Sphäre... Alexandria hat bis heute siebzehn Schlachten gesehen. Der Planet, dieses einstige Kleinod des Sternenbundes, ist heute nicht viel mehr als ein Trümmerfeld..."

Ellen saß vielleicht zehn Minuten später nach der Vorlesung in einem der vielen Cafes an der Uni. Die heutige Geschichte hatte sie schockiert, zutiefst getroffen. Sie rührte nachdenklich in ihrem Cappuccino... Waren Menschen wirklich so? So grausam? Offenbar... Nun, das war keine besonders aufbauende Neuigkeit, schon gleich gar nicht so früh am Donnerstag Morgen...
Sie sah in ihren Augenwinkeln, wie sich jemand ihr langsam näherte. Ellen sah auf, erkannte John und lächelte ihn schwach an. John lächelte unsicher zurück: "Kann ich mich dazu setzen?"
"Nur zu..."
Er setzte sich schweigend, sah Ellen und erklärte: "Harte Geschichte."
"Hmhm."
"Hmhm?"
Ellen lachte kurz: "Also ja... ich fand sie echt brutal... So was macht mich immer total fertig."
"Kann ich verstehen."
John verfiel kurz in Stille... Sie sah ihn für einen kurzen Moment an und flüsterte: "Hör mal, ich weiß nicht, ob das zwischen uns was wird."
John nickte. Irgendwie hatte er damit gerechnet, dass sie so etwas ähnliches sagen würde.
"Sagst du mir wenigstens, was ich falsch gemacht habe?" stammelte er.
Ellen lächelte schwach: "Du hast nichts falsch gemacht, John... Aber ich hab einen Riesenfehler gemacht..."
John schwieg.
"Denkst du bitte wenigstens noch mal darüber nach?"
Sie sagte nichts. Sah ihn an... Und er stand mit einem unsicheren Lächeln auf und ging wieder...
Ellen sah ihm nach... Ganz klar, Donnerstage waren zum Kotzen...


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Erstversion vom 05.04.2023. Letzte Aktualisierung am 05.04.2023.


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