Sitzung Vier:
Schützenfeuer
Tharkad City, Tharkad
Mark Donegal, Vereinigtes Commonwealth
12.6.3054
Der Schütze
ging langsam seinen Patrouillenweg ab. Die anderen drei Mechs, ebenfalls
Schützen folgten wenige Meter dahinter. Er hatte gehört, dass
Feinde hier in der Gegend waren und prompt
rief ihn einer aus seiner Gruppe:
"Sie müssen hinter der Kuppe sein." Es war eine weibliche
Stimme. Die drei anderen Schützen hatten Männerstimmen.
Der vordere der Schützen kommentierte die Aussage seiner Kollegin:
"Ja, sie müssen hinter der Kuppe sein."
Die Lanze donnerte im Marschtempo über das Steppengras der Hügel...
Und die führende Maschine versank kurz in ihren Gedanken... Der Feind,
lyranische Mechs mit einer zwei- oder dreifachen Übermacht, hatten
die Heimat des Schützen angegriffen und mussten nun daran gehindert
werden, alles hier zu überrennen, bis Entsatztruppen eintrafen, um
Irian zu retten. Wie lange es noch dauern würde, wusste er nicht.
Aber sie mussten kommen. Sonst verlor der Schütze seine Heimat.
Als er über die Kuppe waren und das Gelände dahinter sehen konnten,
sahen sie den Feind. Eine feindliche Kompanie. Als die Maschine genauer
hinsah, erkannte sie eine gut durchmischte Einheit.
Da waren ein Wespe, zwei Kommandos, und ein Brandstifter, offenbar die
Scoutlanze der Lyraner.
Dann zwei Greife, ein Feuerfalke, ein Derwisch - die Kampflanze - sowie
zwei Kreuzritter, ein Donnerkeil und ein Zeus, die die Befehlslanze bildeten.
Beachtliche Gegner...
Doch die vier Schützen würden sich zu wehren wissen, das war
klar. Der vordere reduzierte sein Tempo und die drei dahinter taten es
ihm gleich. Nach seinen Messungen war der Feind etwa zwei Kilometer entfernt
und nun setzte sich der Pulk der zwölf Mechs in Bewegung. Die Scoutlanze
ziemlich schnell und setzte sich von den anderen beiden ab, während
Kampf- und Befehlslanze langsam folgten, gemächlich... Und hier sah
der Schütze seine Chance. Die Lyraner waren dafür bekannt, hin
und wieder unfähige Taktiken anzuwenden und offenbar war das auch
hier der Fall.
Als klar war, dass die Scoutlanze die vier AriMechs alleine angehen würde,
zogen sich die vier Schützen langsam wieder über die Kuppe zurück.
Langsam... Nur nicht überhitzen... Vierhundert Meter hinter der Kuppe
wendete der führende Mech seine Lanze und blieb wartend stehen. Er
befahl seinen Kameraden, die Zielerfassung auf die Reichweite einzustellen,
die wohl entscheidend werden
würde, dreihundert bis vierhundert Meter. Allerdings mehr, um sich
selbst und die Truppe zu beschäftigen als für einen sinnvollen
Grund. Und dann kamen sie über die Kuppe. Die vier schnellen, leichten
Mechs der Scoutlanze, deren Schicksal dem Schützen spätestens
dann besiegelt schien, als sie dort oben auf der Kuppe weiter nach vorne
preschten und nicht auf ihre großen Brüder warteten.
Er gab den Feuerbefehl...
Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis die Zielerfassungen ihre jeweiligen
Opfer gesucht hatten... Volle einhundertsechzig Langstreckenraketen, aus
jedem Mech vierzig, donnerten aus den Abschussrohren und ihrem Ziel mit
unmenschlicher Geschwindigkeit entgegen. Abgesehen davon, dass die vier
Lyraner sowieso nicht reagieren konnten, wenn man die Geschwindigkeit
der austretenden Raketen berücksichtigte, machten sie den wohl Schlimmsten
aller Fehler. Sie wurden langsamer. Der Schütze hätte an ihrer
Stelle beschleunigt oder wäre gesprungen... So gingen sie in ihr
Verderben.
Die Raketen, die für die Wespe vorhergesehen waren, trafen fast vollständig.
Nicht konzentriert, aber die dreißig Raketen, die den 20-Tonner
trafen, waren genug. In Sekundenbruchteilen löste sich an der Wespe
die meiste Panzerung ab... Und einige der Raketen erreichten die interne
Struktur, rissen sie in Stücke und zerfetzten den Mech fast von innen...
Der erste der beiden Kommandos hatte sogar noch weniger Glück, wenn
das überhaupt noch möglich war. Die Raketen trafen auch hier
nicht alle, aber die meisten schlugen konzentriert im zentralen Torso
ein... Hier waren keine Rechnungen oder Schätzungen nötig. An
die zwanzig Raketen, die einen schwachgepanzerten Kommando direkt trafen...
Der Schütze sah und hörte eine Explosion, dann fiel der leichte
Mech, um nie wieder aufzustehen.
Der zweite Kommando hatte mehr Glück. Die meisten Raketen verfehlten
ihr Ziel und bohrten sich in den Boden. Eine Traube von Raketen traf allerdings
das rechte Kniegelenk des Mechs und riss ihm kompromisslos das Bein vom
Körper. Der Kommando stürzte und blieb unbrauchbar zurück.
Aber im Gegensatz zu seinen beiden Kollegen starb er nicht. Der Brandstifter
wurde voll getroffen, allerdings verteilten sich die Raketen auf seiner
Oberflächen, ließen ihn weder explodieren noch rissen ihm etwas
vom Leib. Aber die pure Gewalt von etwa vierzig Raketen ließ ihn
zu Boden stürzen und raubte ihm das Bewusstsein. Jedenfalls konnte
der Schütze keinerlei Bewegungen mehr sehen. Was auch gut für
ihn war, wusste der Schütze, denn wenn er sich rühren würde,
dann würden sie ihr Werk vollenden und ihn auslöschen...
Stille senkte sich über die Todesszene... Die vier Schützen
bewegten sich nicht. Warteten ab, auch um ihre aufgestaute Hitze abzubauen.
Und plötzlich tauchte der erste der restlichen acht Köpfe auf.
Dann der zweite, dann der dritte. Der Schütze wandte sich an seine
Kameraden: "Langsam zurückweichen und nach hinten gehen... Konzentriert
euch auf die sprungfähigen schnelleren Maschinen."
Seine drei Kameraden gehorchten aufs Wort. Der Schütze erwartete
nun, dass die beiden Greife, der Feuerfalke und der Derwisch das Kampffeld
auseinanderziehen würden, ihre Sprungdüsen einsetzen würden
und versuchen würden, die Lanze der vier AriMechs zu umgehen, einzukreisen
oder ihr in die Flanke zu fallen. So hätte es jeder vernünftige
Kommandeur befohlen, auch der Schütze. Offensichtlich waren die Lyraner
von dem Bild, das sich ihnen bot, ihren gefallenen und besiegten Kameraden
so in Rage versetzt worden, dass ihnen sämtliche Vernunft abging.
Die Lyraner marschierten in der Angriffsgeschwindigkeit der langsamen
schweren Maschinen, etwa 40 km/h, in einer Reihe auf die vier Schützen
vor, die mit etwa 10 km/h zurückwichen. Bevor die Lyraner nun ihre
Feuerkraft entfalten konnten, hatten die Kameraden des Schützen ihre
Langstreckenraketen schon wieder auf den Feind gerichtet und fingen an...
Hier schossen mal zwanzig Raketen aus einer Lafette, dann feuerte mal
einer zwei Salven ab... Immer drauf... Die Lyraner standen in einer Reihe...
Möglicherweise trafen die Raketen nicht das gewünschte Ziel,
dafür trafen sie dann ein anderes Ziel. Die Salven der Lyraner, die
unter Nebel, Explosionen und einschlagenden Raketen abgefeuert werden
wurden, trafen in der Regel kaum. Der Schütze hatte seine Lanze weit
auseinandergezogen und gab den Raketen, AK-Granaten und den beiden PPKs
der Greife die ihr Ziel verfehlten so nicht die Chance, jemand anderen
zu treffen. Irgendwann fiel unter einer gewaltigen Explosion der fünfte
lyranische Mech, der Feuerfalke. Die vier Schützen setzten ihr mörderischen
Bombardement fort... Der Feind war inzwischen auf etwa 200 Meter herangekommen
und teilte seinerseits nun ebenfalls Schläge aus. Doch die Schützen
fuhren unbeirrt fort... Salve um Salve... Und nachdem sie den mächtigsten
der lyranischen Mechs gefällt hatten, den Zeus, blieben die Lyraner
stehen, wendeten und zogen sich besiegt zurück...
"Dieses Beispiel aus dem Jahr 2842 zeigt uns ziemlich deutlich, dass
Fernkampfsituationen hin und wieder entscheidend sein können. Es
gibt auch heutzutage noch genügend Verrückte, die denken, man
könnte AriMechs damit besiegen, indem man mit schnellen leichten
Mechs die Distanz verringert... Das mag ja hin und wieder funktionieren,
es gibt sogar eine Menge Belege dafür, ich möchte aber darauf
hinweisen, dass nur ein einziger Treffer ausreicht und die Sache ist gegessen."
Eine Studentin aus der vorderen Reihe meldete sich: "Aber mal theoretisch...
Wenn zum Beispiel ein Mech von der Geschwindigkeit eines Flohs..."
Wellerbein lachte laut - fast arrogant und beleidigend - auf: "Haben
Sie schon mal gesehen, was eine PPK oder eine LSR20 mit der Spielzeugpanzerung
eines Flohs macht?"
Schweigen. Der Dozent redete weiter: "Ich habe solche Dinge leider
schon viel zu oft gesehen... Verzeihen Sie mir mein altkluges Gerede...
Aber das läuft fast jedes Mal gleich ab und es geht auch fast jedes
Mal verteufelt schnell...
Jedenfalls ist dieser Faktor, die Fernkampfausrüstung, absolut entscheidend,
wenn es um den Ausgang einer Schlacht geht.
Sicher, es läuft nicht immer so herrlich wie bei diesem Beispiel.
Das Gelände sprach für die vier Schützen und die LCS haben
weder zusammen angegriffen noch den Gegner ausmanövriert, aber denken
Sie bei der Analyse eines MechGefechtes, die sie ja später alle mal
irgendwann beruflich ausführen werden, an meine Worte: Niemand nähert
sich in einem planlosen Sturmangriff ungeschoren einem AriMech... Im Zeitalter
von ER-Waffen, ArrowIV und ähnlichem Schnickschnack dürfte diese
kleine Lektion sogar noch bedeutender werden.
Übrigens, die lyranische Invasion ging in die Hose. Obwohl die LCS
eine dreifache Überlegenheit hatten, konnte das LFW-Militär
Irian durch verbitterte Defensivarbeit bis zum Eintreffen der Entsatztruppen
halten. Und danach blieb den Lyraner sowieso nur der Rückzug."
Die Clique
saß keine zehn Minuten später bei ihrem berühmten ´zweiten
Frühstück´, inzwischen eine
feste Institution, die diese Donnerstag Morgen überhaupt erst erträglich
machte. Ellen hatte irgendwann am Wochenende beschlossen, doch wieder
mit Nihongi und Sergej zu reden, wobei sie immer noch sauer war... Wie
die beiden den Tod der Pilotin dieses Quasimodos so bestialisch feiern
konnten, war ihr immer noch ein Rätsel. Für Ellen war und blieb
es widerlich. Mord. Nun, möglicherweise hatte sie auch einfach keine
Solaris-Gene... Die Sache zwischen Pedro und Samantha hatte sich anscheinend
etwas gefestigt, obwohl Ellen aus gesicherten Quellen - dem Mund von Sam
- erfahren hatte, dass es während der letzten Tage nur zu gesitteten
Dingen wie etwas Vorspiel und ähnlichem gekommen war... Was vermutlich
nicht lange so bleiben würde, aber Ellen fand es schon mal ganz gut,
dass Sam dem Kerl nicht gleich alles gab, was er vermutlich wollte...
Als John sie von der Seite antippte...
"Ja?" fragte Ellen, nachdem sie ihre Tasse Kräutertee abgesetzt
hatte.
"Sag mal, was machst du heute Abend?"
Ellen sah ihn kurz überrascht an: "Wieso fragst du denn?"
"Naja, heute Abend ist bei uns im Wohnheim ´ne Stockwerksparty..."
Ellen lächelte John an: "Und da soll ich dann auch hinkommen?"
"Wäre nett."
Ellen überlegte kurz - und nickte dann: "Naja, wieso eigentlich
nicht?" ´Aber bild dir nicht ein, dass du dann auch nur irgend
was mit mir anstellen kannst, Sweety...´
John lächelte sie an: "Hey, genial! Hätte ich nicht gedacht,
dass du ´Ja´ sagst... Die anderen hier kommen auch alle... July und
Pedro wohnen ja auch in den Wohnheim."
Ellen lächelte kurz... diplomatisch und stand dann auf: "Aber
du, ich muss dann weiter... Wir sehen uns dann morgen."
Adrenalin I - Kapitel 05 - Schützenfeuer
05.04.2023
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